Licht über den Klippen
Kästchen. »Und für wie alt
hältst du den, Einstein?«
»Wow«, rief Oliver aus, legte die Kugeln zurück und nahm ehrfürchtig
den Dolch in die Hand. »Der ist wunderschön.«
Nur ein Mensch, der Geschichte liebte, konnte Gefallen an etwas
finden, dem der Zahn der Zeit so sehr zugesetzt hatte. Er drehte den
verbliebenen Teil des Griffs ins Licht. »Ich glaube, der ist aus Muschelkalk.«
Bravo, Oliver! Ich war gespannt, wie nahe er der Wahrheit mit seiner
Einschätzung kommen würde.
»Das könnte das Messer eines Schmugglers sein«, meinte er.
»Warum?«, wollte Mark wissen.
»Mit ziemlicher Sicherheit gehörte es jemandem, der viel Zeit auf
dem Meer verbrachte, denn Seeleute hatten Messer dieser Größe. Es handelt sich um
ein Multifunktionsgerät, mit dem sich sowohl ein Seil splitten als auch das
Essen schneiden und aufspießen ließ. Auf einem Schiff war man ohne so etwas
aufgeschmissen. Dieses Stück ist besonders schön gearbeitet. Wenn ich es so
halte …«, er wölbte die Handfläche um den Griff, »… sieht man die Klinge kaum.
Wer es gefertigt hat, verstand sein Handwerk.« Er wiederholte Marks Frage: »Wie
alt es ist? Schwer zu sagen in dem Zustand, aber die Form war in der
Restaurationszeit verbreitet, zwischen 1660 und 1680.«
»Eine ziemlich genaue Angabe«, stellte Mark beeindruckt fest.
»Ja. Wisst ihr, ich habe eine Schwäche für Messer. Würdest du es
verkaufen?«
»Ich denke nicht, dass das sinnvoll wäre«, antwortete Mark, nahm
Oliver den Dolch aus der Hand und legte ihn zurück in das Kästchen. »So kaputt,
wie es ist, würde es wohl nicht viel bringen.«
Falls Oliver wusste, was das Messer wert war, hatte er wohl
beschlossen, es uns nicht zu verraten. Vielmehr zuckte er mit den Schultern,
was Claire veranlasste, mit der Zunge zu schnalzen und eine Wunde an seinem Arm
zu begutachten.
»Übler Kratzer«, stellte sie fest. »Ich hole dir ein Pflaster.«
»Nein, nein, nicht nötig«, versicherte er ihr. »Das war nur dieses
verdammte Gesträuch neben dem Gewächshaus.«
»Susans Weißdornbusch. Sie hat gerade alle Sträucher rund herum
entfernen lassen.«
»Na, toll«, sagte Oliver, an Susan gewandt.
»Das ist ein kornischer Brauch, du Dummkopf«, wehrte diese sich.
»Wir machen daraus einen cloutie tree wie der am Brunnen in St. Non’s. Das gefällt den Touristen. Sie können ein
Stück Stoff an einen Ast binden und sich dabei etwas wünschen wie die Leute
früher.«
»Ach so.« Oliver strich über die Wunde. »Dann war das ja ein guter
Anfang.«
Als er sich Salat nahm, fragte ich ihn: »Oliver?«
»Ja?«
»Hast du schon mal was von der Trelowarth-Eiche gehört? Ein ziemlich
großer Baum in der scharfen Kurve der Straße?«
»Die Trelowarth-Eiche? Klar. Davon habe ich sogar eine Radierung.
Die könntest du dir ansehen. In meinem Wohnzimmer.«
»Was ist mit dem Baum passiert?«
Er spießte ein Salatblatt auf. »Methodisten.«
»Wie bitte?«
»Die Ortsansässigen glaubten, dass der Baum Zauberkräfte hat, und
dem Methodisten-Pfarrer passte das nicht. Er hat ihn fällen lassen.«
»Wann?«
»Irgendwann im neunzehnten Jahrhundert. Wenn es dich interessiert,
schlage ich es für dich nach.«
Susan schüttelte den Kopf. »Wie albern. Sie haben den Baum einfach
gefällt?«
»Ja. Und den Stumpf haben sie verbrannt und ausgegraben.«
Aber nicht die Wurzeln, hätte ich beinahe gesagt. Die hatten sie
nicht zerstören können.
Die Wurzeln, die dem keltischen Volksglauben nach die Welten von
Licht und Schatten verbanden, sodass der Baum als eine Art Pforte diente …
Da hörte ich aus der Ferne Lachen, Männerlachen, und hob den Kopf.
Ich sah, wie der Raum sich aufzulösen begann und Fergal zur offenen Feuerstelle
ging … Ich blinzelte, und alles war wieder wie zuvor.
»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Oliver besorgt. »Hast du
Kopfschmerzen?«
»So was Ähnliches.« Ich griff zur Gabel. »Aber das ist sicher gleich
wieder vorbei.«
Aus den Augenwinkeln nahm ich den Schatten eines schwarz gekleideten
Mannes wahr, der am Fenster vorbei zur hinteren Tür schritt.
SIEBENUNDZWANZIG
M ir stockte der Atem,
bis mir klar wurde, dass ich mich sicher in der Gegenwart bei meinen Freunden
befand und der Constable sich nicht in meine Zeit verirrt hatte. Den Mann
draußen vor dem Fenster kannte ich nicht; er war größer als Creed und hatte
breitere Schultern.
Oliver hatte ihn auch gesehen. Als es an der hinteren Tür klopfte,
rutschte er mit dem Stuhl zurück und stand
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