Licht und Dunkelheit
fernhalten.
»Lasst mich sofort runter!« Levardas Stimme vibrierte und knisterte von der Energie, die in ihr getobt hatte.
Auf der Stelle beförderte Lord Otis sie unsanft auf die Beine. Sie wankte, krallte sich in Umbras Mähne fest und lehnte kurz ihre Stirn an seinen Hals. Geduldig ließ der Hengst sie gewähren.
Der Mann hinter ihr atmete scharf ein. »Wie könnt Ihr es wagen, ein so kostbares Tier in die Wildnis zu schicken, in der es womöglich nicht einen Tag überlebt?«
Levarda drehte sich bedächtig zu dem ersten Offizier der Garde um. Sie wusste, dass ihre Haut – genährt von der Energie – leuchtete.
Lord Otis‘ Erscheinung aber loderte geradezu, bläulich nahe am Körper, rötlich, orange und gelb mit wachsendem Abstand von ihm.
Was für eine Verschwendung der Kräfte, schoss es ihr durch den Kopf. Als sie die kalte Wut in seinen Augen sah, wich sie erschrocken zurück. War es schon soweit? War der Tag der Erfüllung ihres Albtraums gekommen? Ihr Blick wanderte zu seinem Schwert. Instinktiv legte sich seine Hand darauf, als er ihrem Blick folgte.
Levarda lächelte herablassend. Sie mochte kein Schwert besitzen, aber so einfach könnte er sie nicht töten. Sie stand neben dem Pferd, brauchte sich nur umzudrehen und aufzuspringen, vorausgesetzt, das Tier war bereit, seinen Herrn zu verlassen.
»Das geht Euch nichts an«, erwiderte sie kalt, indem sie ihm direkt in die Augen sah, denn seine Absicht, das Schwert zu ziehen, würde sie einen Bruchteil vor der Bewegung genau dort ablesen.
Sein Mund zuckte spöttisch. »Ihr habt recht«, erwiderte er gefährlich leise. «Lassen wir Lord Blourred entscheiden, was mit Euch geschehen soll. Er wird nicht erfreut sein, dass Ihr ein solches Tier aus seinem Besitz diesem Schicksal preisgebt.«
Levarda gelang es nicht, ihre Befriedigung zu verbergen. »Lord Blourred weiß längst, dass ich meiner Stute die Freiheit schenke, bevor ich weggehe. Am Hof des hohen Lords habe ich sicherlich keine Möglichkeit mehr, auszureiten.«
Ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.
»Euer Pferd?«, fragte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.
»Nun, angesichts Eurer Herkunft großmütterlicherseits sollten Euch Frauen, die den Umgang mit Pferden gewohnt sind und solche besitzen, vertraut sein.« Sie hätte sich ohrfeigen können.
Das Leuchten um seinen Körper schwand. Seine Kiefermuskeln entspannten sich und er sah sie mit interessiertem, wachsamem Blick an.
Levarda sammelte sich und trat wortlos an ihm vorbei den Rückweg zur Burg an.
»Was habt Ihr vor?«, klang seine Stimme nun eher belustigt in ihrem Rücken.
»Wonach sieht es für Euch aus, Lord Otis?«, spottete sie ihrerseits, ohne den Schritt zu verlangsamen oder sich umzudrehen. »Ich gehe zurück zur Burg.«
»Das ist ein weiter Weg zu Fuß.«
»Aber nicht mein erster weiter Weg zu Fuß.«
Der Weg war weiter als gedacht. Die Sonne ging bereits hinter den Bergen auf und kletterte ein Stück über den Horizont, bevor Levarda den Seiteneingang erreichte.
Es herrschte geschäftiges Treiben, doch sie schlüpfte von Herrschaft und Garde unbemerkt in die Frauengemächer.
In ihrer Kammer angekommen, öffnete sie ihre Truhe, holte den Beutel mit Steinen heraus und begann mit der Übertragung der überschüssigen Energie. Ruhe, Gelassenheit – wo war ihr Verstand geblieben? Wie hatte sie nur so unvernünftig reagieren können? Aber war es verwunderlich? Niemand hatte sie auf so etwas je vorbereitet.
Die Stimme ihres Meisters klang in ihrem Kopf: »Egal, wie viel du weißt. Egal, wie viel du lernst. Egal, wie viel du trainierst. Du wirst im Leben immer auf Situationen treffen, die neu für dich sind. Wirklich weise ist der, der mit der Ungewissheit umgeht.«
Noch nie hatte sich Levarda so unwissend und hilflos gefühlt wie jetzt. Ihr bangte es vor dem Abend, wenn sie wieder auf Lord Otis treffen würde. Was, wenn er sich wirklich, wie von Lady Tibana befürchtet, gegen sie als Lady Smiras Begleitung aussprach?
Angst ist es, die uns wachsam macht für das, was auf uns zukommt. Nur ein Narr hat keine Angst. Zu viel Angst ist, was uns lähmt. Was unsere Gedanken verwirrt und uns Fehler machen lässt. Zu viel Angst entsteht durch Unwissenheit, die sich in der Fantasie durch die Vorstellung potenziert, was alles passieren könnte. Die Kunst besteht darin, sich der Angst zu stellen, Wissen zu sammeln und sich so ihrer Macht zu bedienen.
So stand es in den Büchern von Larisan. Levarda schnaubte grimmig.
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