Licht und Dunkelheit
Stallbursche reichte, über ihren Kopf. Der Bursche nahm auch das Pferd von Lord Otis mit. Sendad folgte ihm.
Zusammen mit dem Burgherrn ging Levarda in die Halle, wo Bernar mit zwei weiteren Dienern bereits wartete. Sie schickte sich an, die Treppe hochzugehen.
»Nicht so eilig, Mylady, ich möchte Euch in meiner Bibliothek sprechen. Bernar, bring uns was zum Essen aus der Küche. – Ein Becher Wein?«, wandte er sich an Levarda, die stumm nickte. »Und zwei Becher Wein.«
Müde folgte sie Lord Otis in seine Bibliothek. Sie hatte sich völlig verausgabt, war an ihre Grenzen gegangen. Sie hatte keine Ahnung, was der Lord noch von ihr wollte, sehnte sich nach einem Bett und nach Vergessen. Aber das interessierte Lord Otis nicht, soweit kannte sie ihn. Er würde ihr erst Ruhe gönnen, wenn er hatte, was er wollte. Also war es das Einfachste, ihm zu gehorchen.
Er zeigte auf die Sessel beim Kamin. Levarda setzte sich, zog die verschlammten Schuhe aus, die Spuren auf dem Boden hinterlassen hatten, und schob sich die Füße unter.
Lord Otis beugte sich zu dem Holz in der kalten Feuerstelle und streckte den Arm aus. Eine Flamme bildete sich in der Innenfläche seiner bloßen Hand und entzündete ein prasselndes Feuer. Im Profil sah sie, wie das Licht auf seinem Gesicht tanzte. Um seine Augen lagen tiefe Schatten. Seine Schultern hingen herab. Er schloss die Augen.
Nach einem Moment des Sammelns nahm er in dem Sessel ihr gegenüber Platz. Levarda wappnete sich.
»Was ist mit Eurem Haar passiert?«, fragte er.
Sie fasste sich an den Kopf. »Was ist damit?«
»Ihr habt eine weiße Strähne darin.«
Levarda öffnete ihr Haar, schüttelte es, griff hinein. An der linken Schläfe zog sich daumenbreit eine weiße Strähne durch ihr Haar. Entsetzt sah sie diese an. Wenn jemand in ihrem Land eine weiße Strähne bekam, stand er über allen anderen Mintranern. Solche Menschen galten als weise, denn die Göttin Lishar war ihnen begegnet. Jeder suchte den Rat einer so gezeichneten Person. Sie hatte einmal von einem Mann gehört, der in die Einsamkeit der Berge geflüchtet war, um dem Ansturm zu entfliehen.
Nicht die Tatsache, dass sie eine weiße Strähne hatte, entsetzte Levarda, sondern dass sie sich nicht im Geringsten weise fühlte. Im Gegenteil – sie kam sich so hilflos vor wie noch nie in ihrem Leben.
Mit ihrem Gesichtsausdruck hatte sich anscheinend die Beantwortung der Frage erübrigt. Lord Otis beobachtete sie nur.
Bernar trat mit einem vollen Tablett ein, sah Levarda mit nackten Füßen, dem offenen Haar, und blieb abrupt stehen.
»Verzeiht, Mylord, ich wollte nicht stören.«
Lord Otis winkte ihn heran. »Ihr stört nicht. Setzt das Essen auf dem Tisch ab.« Er selbst stand auf, stellte den kleinen Tisch vor Levarda und schob seinen eigenen Sessel dichter zu ihr.
Sie konnte in Bernars Gesicht lesen, was er dachte: die nächste Bettzofe für Lord Otis. Bei dem Gedanken schüttelte es sie. Ihre Zähne pressten sich zusammen, sodass diesmal ihre eigenen Kiefermuskeln hervortraten wie sonst die des Lords.
Der Hausherr musterte sie aufmerksam. Er wartete, bis Bernar alles hingestellt hatte, nahm sich seinen Wein und setzte sich. Nach einem kräftigen Schluck ließ er die Flüssigkeit im Becher kreisen.
Levarda griff sich ihren Becher und nippte vorsichtig. Sie war sich nicht sicher, welche Wirkung das Getränk in ihrem erschöpften Zustand auf sie haben würde. Der Alkohol strömte gleich spürbar durch ihren Körper, ihre Muskeln entspannten sich auf angenehme Weise. Vielleicht half ihr der Wein, wenigstens heute Nacht zu vergessen, was sie gesehen hatte.
»Was hat Euch so in Zorn versetzt?«, vernahm sie seine leise Stimme.
»Ich sagte, dass ich einen Fehler gemacht habe. Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Das reicht mir nicht. Ich möchte wissen, was der Auslöser dafür war. Was hat Adrijana angestellt?«
»Nichts!«, schoss es aus ihr heraus. Gleichzeitig spürte sie, wie die Bilder erneut an sie herantraten. Hastig trank sie einen weiteren Schluck Wein.
»Ich brauche eine Antwort.«
»Mehr kann ich nicht sagen.«
»Gut, dann geht hoch und packt Eure Sachen.«
Sie sah ihn fassungslos an. »Das ist nicht Euer Ernst!« Aber in seinem Gesicht sah sie, dass sein Entschluss feststand. »Ihr habt meinen Schwur angenommen und mir Euren gegeben.«
»Ja.«
»Wie könnt ihr mich dann wegschicken?«
»Ich habe nicht geschworen, dass ich Euch auf die Festung des hohen Lords
Weitere Kostenlose Bücher