Licht und Dunkelheit
bevor sie ganz ausgesprochen waren.
Der Nebel kam auf sie zu, verdichtete sich und trug sie fort in der Zeit. Sie sah Dinge, Unaussprechliches, Schmerz und Leid von Frauen, Männern und Kindern. Winselnd tat sie alles, um sich den Bildern zu verschließen. Unerbittlich drängte die Wesenheit sie ihr weiter auf, und als sich der Nebel lichtete, fand sie sich zusammengerollt auf dem Boden wieder. Regen strömte auf sie herab, vermischte sich mit den Tränen auf ihrem Gesicht. »Was soll ich tun? Was kann ich tun?«, jammerte sie.
»Verzeihen«, sagte die Stimme.
Levarda schluchzte auf. Wie sollte sie all die Grausamkeiten verzeihen können?
»Meine Tochter, öffne deine Augen, sieh die Welt in ihrer Unvollkommenheit und nutze, was ich dir geschenkt habe, um den Menschen zu helfen, die deiner Hilfe bedürfen. Aber setze niemals deine Macht ein, um anderen Menschen deinen Willen aufzuzwingen oder sie zu verletzen.«
»Bitte warte«, rief Levarda, die spürte, dass sich die Wesenheit zurückzog.
»Es ist alles gesagt.«
Stille breitete sich aus.
Levarda richtete sich auf. Sie konnte unmöglich solche Taten verzeihen. Suchend drehte sie sich um die eigene Achse. Sie war allein. Völlig überfordert damit, einen klaren Gedanken zu fassen, tat sie, was sie von ihrem Meister für den Fall gelernt hatte, wenn ihr Geist Ruhe brauchte. Sie begann mit der Übung des Wassers.
Sie wiegte sich hin und her. Ihre Hände formten Wellenbewegungen nach rechts und links. Mit dem Körper nahm sie die Bewegungen auf, ließ ihre Energie fließen. Ihr Rücken bog sich nach hinten, die Hände erreichten den Boden, ihr Körper formte eine Brücke. Sie legte die Ellenbogen auf die Erde und holte ihre Beine nach. Stück für Stück bewegte sie sich durch jede einzelne Form der Elemente. Mal flog sie wie ein Vogel im Sturm, stand auf einem Bein wie ein Reiher, der auf Beutezug in einem Bach verharrte. Sie wand sich wie die Schlange im Sand. Streckte ihre Arme empor wie der Baum seine Äste in den Himmel. Schweiß rann ihr in Strömen den Körper herab.
Schließlich erreichte sie die letzte Figur. Sie führte in einem weiten Bogen die Hände in der Luft zusammen, brachte sie zur Stirn, zu ihrem Herzen, horchte in sich hinein und sprach laut: »Ich verzeihe dir, Vater.«
Der strömende Regen hatte aufgehört. Die Wolken am Himmel brachen auf. Levarda hatte jedes Zeitgefühl verloren. Sie wusste nur eines: Sie musste zurück zur Burg. Leise pfiff sie, und Sita kam von den Bäumen her zu ihr.
Sie ritt im Schritt zurück zur Burg. Es war früher Abend, das merkte sie, als die Wolken aufrissen und das Rot der Abendsonne am Himmel leuchtete. Mehr als ein Tag und eine Nacht waren vergangen.
Am Waldrand blieb sie stehen und sah zur Burg Ikatuk, wo sich das Tor öffnete und zwei Reiter herauskamen. Hinter ihnen schloss sich das Tor.
Levarda gab Sita ein Signal, und langsam setzte die Stute sich wieder in Bewegung. An der Haltung des einen Reiters erkannte sie Sendad. Dabei wirkte er angespannt und nervös. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Ihre Kräfte schonend, beschränkte sie sich darauf, mit ihren normalen Sinnen zu erkennen, um wen es sich bei dem zweiten Mann handelte. Seine Haltung erinnerte sie an Lord Otis, doch das Pferd war nicht Umbra. Nein, Unsinn, er befand sich auf der Festung, regelte die Ankunft von Lady Smira bei ihrem Gemahl. Als sie aber erkannte, dass es sich bei dem Reiter um niemand anderen handeln konnte als ihn, parierte sie Sita durch. Die Situation war kritischer, als sie befürchtet hatte.
Die beiden Männer ritten unbeirrt auf sie zu. Sie spürte den kraftvollen Schutzschild, der die Reiter umgab, ließ ihre Hände sichtbar herabhängen, um zu zeigen, dass sie nicht vorhatte, zu kämpfen.
Welchen Zusammenhang hatte Sendad erkannt? Wusste er, dass der Sturm der Elemente mit ihr zu tun hatte?
Erst kurz vor ihr blieben die Reiter stehen. Levardas Blick suchte Zuflucht in Sendads blauen Augen.
»Es tut mir leid, dass ich Euch erschreckt habe mit meinem Zorn.« Sie wartete auf eine Antwort von Sendad, aber beide Männer schwiegen.
»Ich habe einen Fehler gemacht.« Levardas Stimme verlor den Halt. Sie musste sich sammeln, bevor sie fortfahren konnte: »Es wird nie wieder vorkommen.« Ihr Blick wanderte zu Lord Otis, dessen Miene ausdruckslos blieb.
»Was genau ist passiert?«, verlangte er zu wissen.
»Die Narbe in Adrijanas Gesicht. Ich wollte ihr helfen, sich nicht mehr so hässlich zu
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