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Licht

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Meckel
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Kilometer in drei Tagen. Schneefreie Autobahn durch das westliche Tiefland. Hotel de la Couronne in Mauviron. Niemand erkannte uns.
    Wir fuhren gleich morgens in die Weinberge, ließen den Wagen an der Straße stehn und gingen das letzte Stück zu Fuß. Windstiller Tag mit dem Lärm von Bulldozern am Gebirge. Brombeerranken wippten über den Weg, das Haus war auch jetzt noch von Touristen bewohnt, ein Volvo mit belgischer Nummer unter den Fichten, geöffnete Fenster in der Vormittagssonne, Liegestühle und Zeitungen unter Akazien – ungefähr so, wie es damals bei uns aussah.
    Winterlicht, durchdringend und gleichmäßig hell, dünne Baumschatten auf dem Gras. Ein Flugzeug der Linie London-Paris, mit höflichem Dröhnen. Im Sommer klingt das freundlicher, sagte Dole, weniger monoton, es ist das klassische Geräusch für einen Sommertag. Wenn ich im Liegestuhl an der Hauswand lag und die Flugzeuge hörte, fühlte ich mich unbeschreiblich wohl, fest aufgehoben in diesem Schönwettergebrumm und glücklich, glücklich. Wir gingen nicht bis zum Haus, sondern liefen in weitem Kreis um das Grundstück herum, dabei sprachen wir wenig. Dole ging zögernd hinter mir her, nachdenklich, mit vielen Aussichtspausen. Wir gingen zu den Kiefern am Sumpf und weiter in die Windbrüche unter den Felsen. Eine Stunde lang kletterten wir durch Geröll am Berghang und blickten in die Ebene. Die Landschaft hier oben war unverändert. Erleichtert stellten wir fest, daß die Landschaft dieselbe war.
    Was haben wir hier die ganze Zeit gemacht, fragte Dole. Es kommt mir so vor, als hätte ich den Sommer lang auf der Fensterstange gesessen und nichts getan. Kannst du dich erinnern, was wir hier gemacht haben? Wenn die Zeit ohne Unterbrechung verläuft, verliere ich die Orientierung. Es ist vielleicht ein Glück, jeden Tag dasselbe zu tun; in der Wiederholung verflüchtigt sich die Angst vor dem Ende der Zeit, das finstere Schwindelgefühl ist seltener da. Wir sind hier fast immer nackt herumgelaufen, und du hast mir den roten Bademantel geschenkt, damit ich was überziehn konnte, wenn jemand kam. Ich erinnere mich jetzt, daß wir damals Rotwein tranken, weder vorher noch nachher haben wir Rotwein getrunken, der Rotwein gehörte zu diesem Haus und in diesen Sommer. Weißt du, wie lange das her ist?
    Der Rotweinsommer war vier Jahre her.
    Vier Jahre, sagte Dole und sah mich an, von der Sonnenbrille geschützt. Weißt du, wie alt ich bin?
    Wie alt sie war? Natürlich wußte ich, wie alt sie war.
    Und wie alt bin ich?
    Dole war dreiunddreißig Jahre alt.
    Bist du sicher?
    Ich war sicher, und ihr Geburtstag war ein Tag im September.
    Warum weißt du genau, wie alt ich bin?
    Ich wußte genau, wie alt sie war. Ich kannte ihre Namen, es waren drei, und ihre Telefonnummer war die einzige, die ich auswendig wußte.
    Und wie sind meine Namen?
    Ihre Namen waren Susanna Julia Marie.
    Stimmt das?
    Es stimmte. Dole kam dazu, nachdem wir uns kannten.
    Ich weiß nie genau, wie alt du bist, sagte Dole. Wenn ich wissen will, wie alt du bist, muß ich nachdenken. Aber ich brauche das nicht zu wissen. Für mich bleibst du so alt wie du warst, als wir uns kennenlernten. Es spielt keine Rolle, wie alt du bist. Spielt es für dich eine Rolle, wie alt ich bin?
    Es spielte keine Rolle, wie alt sie war, aber ich kannte ihr Geburtsdatum. Ich wußte, wie alt sie war, aber ich wußte es nicht in jedem Augenblick. Ich lebte nicht mit ihrem Alter zusammen.
    Das ist seltsam, sagte Dole. Warum lebst du nicht mit meinem Alter zusammen. Wenn du mit mir zusammenlebst, lebst du doch auch mit meinem Alter zusammen.
    Wovon sprach sie? Was wollte sie wissen?
    Sie gab keine Antwort.
    Warum gab sie keine Antwort?
    Lebst du mit mir zusammen? fragte Dole.
    Ich lebte mit ihr und mit allem, was sie war.
    Lebst du auch mit meinen Gespenstern zusammen?
    Kennst du sie überhaupt?
    Ich kannte ein Gespenst, das war gemeinsam.
    Was bedeutete das für sie: Gespenst?
    Kannst du dir vorstellen, daß ich mit einem Gespenst lebe?
    Ich konnte mir vorstellen, daß dies der Fall war.
    War es der Fall?
    Wirklich?
    War es der Fall, oder war es nicht der Fall?
    Und du kannst es dir vorstellen? fragte Dole. Ich wußte mehr als ich sagte. Ich sagte Ja.
    Gar nichts kannst du dir vorstellen, sagte Dole. Dann waren auf einmal ihre Kopfschmerzen da. Sie behauptete, entsetzlich müde zu sein und wollte so schnell wie möglich zum Wagen zurück. Wir liefen durch die hellen Hügel zum Wagen, ich versuchte noch zu

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