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Licht

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Meckel
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beobachten glaubte und doch immer nur ihre Schönheit wahrnahm – aber wann war das. Mein Versuch, sie zu beobachten, war nach vier Tagen vorbei. Beobachtung war das Gegenteil von Sympathie und weder mir noch Dole möglich. Dole vor mir auf dem Trottoir und die Frage: was hatte sie vor. Es war nicht nötig zu wissen, was sie vorhatte. Nichts von ihr wissen zu wollen – ein geflügelter Zustand. So sah ich sie nur einmal: lebendig ohne mich, und obwohl ich wußte, daß ihr von mir nichts fehlte, war ich erstaunt, dies wirklich vor mir zu sehn. Dole war dieselbe ohne mich. Es war schön, ohne Absicht hinter ihr her zu gehn und zu wissen, wie sehr sie das liebte: ohne Absicht herumzulaufen im Licht eines Wintertags.
    Später verschwand sie im Englischen Café; möglich, daß sie dort verabredet war.
    Hast du dich jemals mit mir gelangweilt? fragte Dole. Vielleicht wenn du rauchtest, während ich nackt auf dem Bett lag, oder wenn ich zuviel von mir selber sprach? Als ich dir von meiner Kindheit erzählte, damals in Mühlfuhr, im wochenlangen Regen – hast du dich da mit mir gelangweilt?
    (Hatte ich mich jemals mit ihr gelangweilt?)
    Mühlfuhr, das war der Frühsommer in den Bergen, als Dole mir die Orte ihrer Kindheit zeigte, Dörfer, die draußen im Hafer lagen und einzelne Häuser aus Schiefer und Großvaterholz, Gehöfte ihrer Onkel und Tanten (stiernackigen, schweigsamen Onkeln, lachlustigen Tanten); dort gab es Wohnstuben voller Kusinen (verräucherte Stuben und rosige, fette Kusinen). Es gab Scheunen voll Stroh und Kornkästen voller Hafer, Brot-Laibe, Butter und Most im Kellergewölbe; es gab Löschteiche, Sägemühlen und Sprudelwasserbäche, die laut und weiß vom Berg in die Ebene stürzten (wie lange war das her, ein halbes Leben). Sie zeigte mir den Hof ihres Großvaters in Sankt Annen und das verwahrloste, von Stachelbeerbüschen umgebene Bauernhaus in Fech, wo sieben Feriensommer verflogen waren, Kinderspielzeit im Licht, marmeladenmäulig und barfuß. Heute erscheint es mir glücklich, sagte Dole, aber ich vergesse nicht die Flüche nachts in den Schlafzimmern, die zusammengeschlagenen Tiere und das mürrische Suppeschlürfen am Mittagstisch, das gottverbissene Trinkergesicht meines Großvaters und das tägliche Leben in der Sprachlosigkeit. Auf dem Löschteich bin ich im Waschtrog herumgeschoben worden, die Kusinen standen am Ufer mit langen Stangen; wenn ich ins Wasser fiel und schrie (und ich schrie so laut wie möglich, das ist klar), rannten die Kusinen ins Haus und die Arbeiter kamen vom Feld und zogen mich aus dem Teich (das Wasser war flach, aber klebrig und dick und dunkel). Die Garage neben dem Hoftor war neu, die Hundehütte war alt und der Milchtisch an der Straße nach Fech; alt waren die Pappeln am Bach und der Ewige Schnee; alt war der Baum, den der Auerhahn bewohnte (er fiel im Sommer über die Pferde her); neu waren die Landwirtschaftsmaschinen im Hof, die geschotterten Wege zwischen den Feldern und der elektrische Zaun um die Viehweiden. Ich bin froh, daß du mich begleitest, sagte Dole, das alles ist gut, wenn du es siehst; ich hätte mich nicht allein zurückgetraut.
    Mühlfuhr war die Hauptstadt ihrer Kindheit (langweilt es dich, das gezeigt zu bekommen – von mir?). Stadtpark, Bahnhof, Brauerei, zwei Papierfabriken am Fluß, drei alte Kirchen und ein Warenhaus, das jährlich größer, beleuchteter, teurer wurde. Der Laubwald kam bis zur Straße herunter und die Brombeerwildnis stach durch den Zaun, dort bin ich als Irrlicht im Kleidchen herumgelaufen, mit Zöpfen, die gegen die Bohnenstangen schlugen. Das Haus ihres Vaters an der Straße zum Fluß, Wohnhaus des Lehrers mit weißer Fensterflucht und acht hellen Zimmern; ein Wintergarten voller Liegestühle und der Balkon darüber, auf dem die Gestalt des Vaters erschien und nach Hause rief: Dooile, DooÜe, Getön eines Berghorns, und sie lief nach Hause, weil es ihr Vater war. Im Garten Bretterstühle um einen Tisch, ein Vogelhaus unter dem Apfelbaum und ein Sandkasten, der in jedem Frühling neu aufgefüllt wurde, sieben Zentner Sand für Dole, unberührt und weiß, ein Geschenk des Vaters. Singendes, springendes Löweneckerchen, und was sich später im Wort Paradies versteckte: die Kindergeburtstage im Garten (fang mich im Herbst, bin kein Schneekind! Dole! Dole!); der Schulweg an der Papierfabrik vorbei oder hintenherum durch den Wald, wo die Gräfin wohnte mit ihrem bissigen Hund; die Berghänge unter dem Schnee und die

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