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Licht

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Meckel
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Obstgärten voller Tauben; das Autowrack hinter der Schreinerei und die verfaulte Brücke über den Wildbach.
    War ihre Kindheit so hell gewesen?
    War sie ein Märchen für das erwachsene Kind? Immer und überall die Gestalt ihres Vaters, er war die Freude und der persönliche Fels; es war der Vater, der gut werden, er war es, der sicher machte noch während er starb; er war es, durch den nichts vermindert wurde, nichts weggenommen, verdunkelt oder verboten; er war es, der Flohzirkus spielte und Bücher besaß; es war der Vater, der die Schlittschuhe im November kaufte und es war der Vater, der das Grammophon im Wohnzimmer aufstellte, und es war die Mutter, die die Schlittschuhe bis Weihnachten einschloß und es war die Mutter, die die Musik mit verstopften Ohren über sich ergehen ließ. Es war der Vater, der abends Geschichten erzählte und es war die Mutter, die morgens die Bettdecke wegzog. Es war der Vater, der die Angst beseitigte mit seinem Lachen und es war die Mutter, die sie täglich wieder einführte mit Stoßseufzern, Ordnungsbefehl und Migränegesicht. Es war die Mutter, immer dieselbe, die abweisend und empfindlich war und ihr ruhloses Leben lang nach Baldrian roch. Es war der Vater, der Dole einen Seekoffer schenkte, es war Dole, die ihre Geheimnisse in ihm verschloß, und es war die Mutter, die das Kofferschloß aufbrach, weil sie Eigensinn fürchtete und verbot. Mühlfuhr, das waren verregnete Ferien im Frühjahr, die ersten gemeinsamen Wochen in einem Zimmer, Grandhotel zur Tanne am Hohen Steg, einziger Großmannskasten im Umkreis der Schneegrenze, geöffnet in jeder Saison, zu feudal für uns (aber manchmal, heimlich oder ehrlich, hab ich was übrig für diesen Komfort, sagte Dole). Balkone mit bärtigen Karyatiden und ein mit Glas überdachter Speisesaal, in dem wir, bedient von zwei Kellnern, alleine aßen. Kegelbahn, Tennisplätze, ein leerer Tanzsaal und Doles Erinnerungen an Flirt und Tango. Zwei Wochen lang hinter ihrer Kindheit her (hatte ich mich jemals mit ihr gelangweilt?), zwei Wochen lang Landregen im Gebirge, beschlagene Scheiben des Speisesaals und durchnäßte Stiefel, nächtlicher Regen, der auf die Eisentische des Hotelparks klopfte; Nässe, die fadendünn und verschleiernd fiel, Melancholiemacherin, sie störte uns nicht; Regen, Regen, Doles Halsweh-Regen, der die Kleider klamm werden ließ und die Haare pelzig; der den Schnee und die Bläue mit schleppenden Wolken verschlang und fünf alte Engländer entmutigte, Bilderbuchengländer, Gäste des Hotels, die Kuchen mümmelnd, schweigsam und steif in den Ledersesseln des Foyers auf Ausgehwetter warteten; hinter dem Fernsehsalon eine Bibliothek, von Touristen zurückgelassene Kriminalromane, Chandler, Highsmith und Chase in mehreren Sprachen, wir nahmen sie auf das Zimmer mit und lasen ausgestreckt auf dem breiten Bett, rauchend, trinkend, gedankenverloren, sofern wir nicht von Kindheit und Zukunft sprachen; Spaziergänge auf Doles Schulwegen, durch aufgeweichte Wiesen und Schneisen am Berg, an Steilhängen watend durch verrottetes Laub – das muß dich doch langweilen, sag mir, ob du dich langweilst; Umarmung und Schlaf im Geräusch des Regens, während Dole ihr Leben für mich heraufbeschwor und jede Frage mit einem Kuß belohnte, kleine Küsse, die wir Druckknöpfe nannten.
    Ich hole sie mittags vom Pressehaus ab. Sie wartet, hin und her laufend auf dem Parkplatz, sie scheint schon eine Weile gewartet zu haben. Ihre Bewegungen sind nervös, ihre Blicke dunkel (hat sie mit ihm telefoniert, eine Nachricht erhalten?). Sie steigt zu mir in den Wagen und sagt, daß sie friert. Wir fahren durch die Innenstadt, viel Geduld im Verkehr, überfüllte Straßen. Nach zwanzig Minuten sind wir auf der Autobahn. Der Himmel glänzt über den Schrottplätzen und die Ebene ist hell bis zum Horizont. Wir können jetzt an etwas anderes denken (an was denkt sie?). Wir verlassen die Autobahn und fahren auf kleinen Straßen durch die Dörfer. Sie wird wieder lebendig und macht mich aufmerksam auf die weiße Sonne. Sie spricht jetzt davon, daß sie ziemlich erledigt ist. Was ist mit ihr los? Die Frage ist schon zuviel. Sie lehnt sich zurück und starrt aus dem Fenster.
    Später parken wir in einem Dorf. Ich lege den Arm um ihre Schultern, sie läßt es geschehen, aber der Körper ist gespannt und ich nehme den Arm wieder weg. Wir gehn in ein Gasthaus, wo wir oft an Sommerabenden waren. Die Terrasse ist leer, ein paar Tische und Stühle sind an der

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