Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lichterfest

Lichterfest

Titel: Lichterfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sunil Mann
Vom Netzwerk:
der Bewegung. Schnell fasste sie sich wieder, tastete die Hutablage ab und begann dann hektisch, Vestons und Mäntel beiseitezuschieben.
    »Suchen Sie das hier?«, rief ich ihr zu.
    Alice Graf zuckte zusammen und drehte langsam den Kopf, dann machte sie ein paar Schritte in die Diele hinein, wo sie wie festgefroren stehen blieb.
    Miranda, José und ich hatten uns auf halber Höhe der Treppe positioniert, jetzt hielt ich die Handtasche hoch und ging langsam die Stufen hinunter.
    Alice Graf starrte sekundenlang auf das Accessoire, dann wanderte ihr Blick zu mir, bevor sie zurückwich. Sie wirkte blass und erschrocken. »Wer sind Sie?«
    »Das tut momentan wenig zur Sache.«
    Sich rückwärts tastend, blieb sie vor der Garderobe stehen. »Draußen steht ein Polizist.«
    »Soll ich ihn gleich rufen, oder möchten Sie sich zuerst anhören, was ich zu sagen habe?«
    Sie blickte erneut auf die Tasche. Ihre Hände fuhren unschlüssig über die Seitennähte ihres Kostüms. »Was wollen Sie?«
    »Den Mord an Ihrem Mann aufklären.«
    »Das tut bereits die Polizei.«
    Ich war inzwischen unten angekommen und öffnete jetzt die Handtasche. »Kann sein. Aber weiß sie auch davon?«
    Das Kleid war komplett zerknittert, als ich es herauszog. Alice Grafs Augen weiteten sich.
    »Voller Blut. Das Blut Ihres Mannes, Frau Graf.«
    »Was soll das beweisen?« Ihre Lippen zitterten, nur einen kurzen Augenblick, schon hatte sie sich wieder unter Kontrolle und erwiderte meinen Blick kühl. Die langen Jahre in der Politik hatten sie geschult.
    »Was glauben Sie?«
    Irritiert blinzelte sie, diese Frage hatte sie offensichtlich nicht erwartet. Ihr Mund klappte auf, ohne dass ein Wort herausdrang.
    »Ihr Mann wurde auf brutalste Weise aufgespießt, Frau Graf. Haben Sie ihm in die Augen geblickt, als er gestürzt ist? Als er merkte, wie er durchbohrt wurde, dass sein Leben abrupt endete? Hat er geschrien? Ein letzter Laut, bevor der Speer sein Herz zerriss? Und das viele Blut überall …«
    »Hören Sie auf!« Ihr ganzer Körper erschauderte, als sie nach Luft schnappte. Ihre Finger wanderten tastend über den Hals, als gäbe es dort einen Kragen zu lockern. Sie blickte zu Boden, während sie sprach: »Er war noch warm. Er hing da … so leblos. Ich musste ihn umarmen. Ein letztes Mal.«
    »Das hätten Sie besser getan, bevor Sie ihn die Treppe hinuntergestoßen haben.«
    Ihre Antwort kam verzögert, als hätte sie etwas Zeit gebraucht, um den Sinn des Satzes zu begreifen. »Was sagen Sie da?« Ihr Gesicht war kalkweiß geworden, die Stimme tonlos.
    »Sie haben mich schon richtig verstanden.«
    »Das ist eine infame Behauptung«, flüsterte sie. »Das muss ich mir nicht anhören.« Ihre Hand zitterte, als sie nach der Türklinke tastete.
    »Doch, das müssen Sie und noch viel mehr, denn ich werde Ihnen jetzt in aller Ruhe erzählen, wie und weshalb Ihr Mann sterben musste. Und ich bin mir sicher, dass Sie das sehr interessieren wird.«
    Ich ließ das Kleid zu Boden fallen und holte die Fotos aus dem Umschlag.
    »Hier.« Ich deutete auf das oberste Bild. »Deswegen haben Sie Ihren Mann ermordet.«
    Alice Graf warf einen flüchtigen Blick auf die kopierte Fotografie und verzog verächtlich die Mundwinkel. Innert Sekunden hatte sie ihre Fassung wiedergewonnen. »Machen Sie sich nicht lächerlich! Sie behaupten tatsächlich, ich hätte ihn wegen dieser kleinen Hure umgebracht?«
    »Nein, dazu haben Sie viel zu viel Klasse. Diese junge Frau hat absolut nichts mit dem Tod Ihres Mannes zu tun.«
    »Worauf wollen Sie dann hinaus?«
    »Auf das, was wirklich auf den Fotos zu sehen ist. Aber dazu muss ich etwas ausholen.«
    »Für so etwas habe ich keine Zeit«, bemerkte sie abfällig und wandte sich wieder der Tür zu.
    »1920 wanderten Cosmo und Abelina Corradini in die Schweiz ein«, begann ich unbeirrt. »Sie wurden hier gebraucht, billige Arbeitskräfte aus Italien, wie sie damals zu Tausenden in das Land strömten. Die Männer wurden bei der Entstehung des Eisenbahnnetzes eingesetzt, andere arbeiteten im Baugewerbe, die Frauen im Gastgewerbe, in Wäschereien. Schon damals war man wenig begeistert von den Immigranten, obwohl diese später maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufschwung der Schweiz beitrugen. Die Geschichte wiederholt sich immer wieder. Aber das wissen Sie ja auch.«
    Langsam hatte Alice Graf sich umgedreht. Ihr unruhiger Blick sagte mir, dass sie ahnte, worauf ich hinauswollte.
    »Wie viele Einwanderer fanden Cosmo und Abelina eine

Weitere Kostenlose Bücher