Lichterfest
Bleibe im Kreis 4, den man damals noch Aussersihl nannte. Abelina begann, im Società Cooperativa zu arbeiten, ursprünglich ein Restaurant, in dem man den Arbeitern billige, meist italienische Menüs servierte. Nach Mussolinis Machtergreifung, die zwei Jahre später eine neue Auswanderungswelle in Italien auslöste, entwickelte sich das Lokal jedoch zum wichtigsten antifaschistischen Zentrum Zürichs.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« Ein letzter lahmer Versuch ihrerseits, mich aus dem Konzept zu bringen.
»Ich komme gleich dazu. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten die Corradinis, die mittlerweile drei halbwüchsige Kinder hatten, wieder in die Lombardei ziehen, zurück in die Heimat, doch weder sie noch ihre Söhne, die sie begleiteten, konnten sich dort wieder integrieren. Zu lange hatten sie im Ausland gelebt. Zudem war die Arbeitslosigkeit derart hoch, dass die jungen Männer keine Anstellung fanden und bereits zwei Jahre später resigniert wieder in die Schweiz zogen, wo man mehr denn je auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen war.«
»Und was bitte soll das beweisen?«
»Dass erstens Politik in Ihrem Umfeld schon immer eine große Rolle gespielt hat. Und zweitens, dass die Geschichte Ihrer Familie auch Ihre Geschichte ist. Denn Cosmo und Abelina Corradini waren Ihre Großeltern.«
Sie sah mich ausdruckslos an.
»Sie sind im Kreis 4 aufgewachsen, nicht wahr, Frau Graf? In einfachen Verhältnissen. Obwohl Sie erst zur Welt kamen, als Ihr Vater längst in die Schweiz zurückgekehrt war. Doch die schwierigen Lebensumstände blieben Ihnen nicht verborgen, Sie haben sich seine Erzählungen immer wieder angehört, das Leid der Großeltern hautnah miterlebt. Die Generationen der Vertriebenen, nirgendwo willkommen, ohne richtige Heimat. Das hat Sie geprägt, Frau Graf, so stark, dass Sie beschlossen haben, sich dafür einzusetzen, dass diesen Menschen so etwas nicht noch einmal widerfährt. Deswegen haben Sie die Stiftung Stadtwohnraum für alle gegründet, die im Kreis 4 Wohnhäuser aufkauft und sich darum kümmert, dass die Mieten moderat bleiben und Menschen, die schon lange dort leben, wie unter anderem die Italiener, nicht vom herrschenden Renovationswahn aus dem Quartier oder sogar ganz aus der Stadt vertrieben werden.«
»Das liegt mir am Herzen«, flüsterte Alice Graf und blickte erneut zu Boden.
»Dermaßen, dass es Ihren Mann das Leben kostete. Sie hatten sich das Foto am Samstagabend nicht genau angesehen, als der junge Mann vor Ihrer Tür stand und wutentbrannt damit herumgewedelt hat. Wie sollten Sie auch, er hat es Ihnen gar nicht richtig gezeigt, wahrscheinlich haben Sie auch nicht alles verstanden, was er gebrüllt hat. Doch Sie erkannten Ihren Mann mit einer jungen Frau darauf und begriffen, dass Ihnen der Bursche drohte. Den Rest konnten Sie sich zusammenreimen. Sie hatten genügend Erfahrung mit den außerehelichen Eskapaden Ihres Gatten. Doch diesmal stand Walter Graf kurz davor, zum Stadtpräsidenten gewählt zu werden, sein Lebensziel, das Sie unter keinen Umständen gefährden wollten. Denn so schwierig es auch war, mit ihm zusammenzuleben, so wenig wie Sie seine politische Überzeugung teilten und so sehr Sie seine Seitensprünge und Affären verletzt haben – Sie haben ihn geliebt, davon bin ich überzeugt.«
Ihre Augen glänzten feucht. »Das habe ich, bei Gott«, bestätigte sie heiser.
»Deswegen schickten Sie dem Jungen auch den Parteisekretär Martin Schluep hinterher, damit er die Fotos wiederbeschafft und so vermieden werden konnte, dass sie in diesem heiklen Moment in der Presse auftauchten, was Ihren Mann höchstwahrscheinlich das Amt gekostet hätte. Doch dann erhielten Sie am Montagmittag einen gelben Umschlag mit den besagten Fotos, im beiliegenden Brief wurden Sie auf naivste Art erpresst. Es waren jedoch nicht die wenigen Zeilen, die Sie derart schockiert haben, dass Sie die Beherrschung verloren.«
Alice Graf schlug stumm die Hände vors Gesicht und schüttelte immer wieder den Kopf, als müsste sie dadurch meine Worte nicht hören.
»Es waren die Fotos, die Sie diesmal in aller Ruhe betrachten konnten.«
Ich hatte die Bilder am Morgen genau studiert. Ihre Bedeutung hatte sich mir allerdings erst offenbart, als ich am Nachmittag den Zeitungsbericht über eine der darauf zu sehenden Personen entdeckt hatte.
Den Vordergrund dominierte Antonia, die sich dem verdutzten Walter Graf an den Hals warf. Das Augenmerk lag ganz klar auf den beiden, was nicht nur mich
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