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Lichterfest

Lichterfest

Titel: Lichterfest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sunil Mann
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hier.«
    Ich sah mich um, während meine drei Zuhörer gebannt jede meiner Bewegungen verfolgten. Dann näherte ich mich dem großen Bild, das in der Diele hing. Es zeigte fünf Greise, die mit hängenden Köpfen auf einer Bank saßen, mit Ausnahme desjenigen in der Mitte alle bärtig.
    »Das Bild ist ganz wenig nach unten gerutscht.« Ich deutete auf den dünnen Streifen heller Tapete oberhalb des Kunstwerks, der sich deutlich abzeichnete.
    » Die Lebensmüden, ebenfalls von Hodler«, meldete sich Alice Graf unvermittelt zu Wort. »Mein Mann hat ihn verehrt. Das hier ist leider nur ein Kunstdruck, das Original hängt in München in der Pinakothek.«
    »Trotzdem ist es verrutscht, und zwar weil das Bild plötz lich schwerer geworden ist. Was hauptsächlich daran liegt, dass sich seit Montag auf der Rückseite ein zweites Gemälde im Rahmen versteckt befindet. Der Genfersee von Saint-Prex aus. «
    Miranda klatschte begeistert in die Hände.
    »Als scheinbar alles perfekt inszeniert war, riefen Sie die Polizei. Sie blieben wie benommen im Eingangsbereich sitzen, ein Zustand, den Sie nicht einmal vorzugeben brauchten. Doch als die Fotografin bereits die ersten Aufnahmen vom Tatort gemacht hatte, fiel Ihnen mit Schrecken ein, dass Sie in der ganzen Hektik vergessen hatten, den Umschlag mit dem Erpresserbrief und den kompromittierenden Fotos verschwinden zu lassen. Noch immer lag er in der Küche. Rasch und unauffällig sprachen Sie sich mit Schluep ab, worauf Sie einen Zusammenbruch simulierten, was Ihnen die Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicherte. Eine chaotische Situation, die Schluep nutzte, um das Kuvert unauffällig an sich zu nehmen und es an einem Ort zu verstauen, wo es keiner gesucht hätte, schon gar nicht jemand, der nichts von seiner Existenz wusste, wie die Polizei: im Altpapier. Eine brillante Idee. Leider unterlief Ihnen ein weiterer Fehler: Im Tumult, der entstand, als Sie zum Krankenwagen geführt wurden, vergaßen Sie Ihre Handtasche an der Garderobe. Heute, als die letzten Übertragungswagen abgezogen waren und Sie endlich ungestört ins Haus konnten, wollten Sie die Tasche und den Umschlag holen und so der Geschichte ein Ende setzen. Schluep war auf dieselbe Idee gekommen, nur war er wenig erfolgreich bei der Durchführung seines Plans. Offenbar haben Sie sich nicht abgesprochen.«
    »Wo ist er überhaupt?«, erkundigte sich Frau Graf.
    Wortlos deuteten Miranda, José und ich zur abgeschlossenen Besenkammer, in welcher der Parteisekretär seinem nächsten Einsatz, der wohl vor einem Untersuchungsrichter stattfinden würde, entgegenschlummerte.
    Alice Graf seufzte und erhob sich. »Gute Arbeit, Herr Kumar. Ich bin beeindruckt.« Sie strich ihr Kleid zurecht und wandte sich wie beiläufig erneut an mich: »Übrigens: Was hat Sie überhaupt bewogen, dem Fall bis zum Schluss nachzugehen? Wenn ich richtig verstanden habe, hat Ihr Auftrag anfänglich ganz anders gelautet.«
    Die Frage überraschte mich, und es dauerte eine ganze Weile, bis ich auf die richtige Antwort kam. Geld war keine Motivation, denn obwohl die beiden vorangehenden Aufträge sehr gut bezahlt gewesen waren, verdiente ich mit der Aufklärung des Mordes keinen Rappen. Ganz sicher war es auch nicht der Ruhm, denn der ging mir erstens am Arsch vorbei, zweitens konnte ich mir davon keinen Amrut kaufen. Und allein die Neugier hätte auch nicht gereicht.
    Verwundert stellte ich fest, dass ich etwas entwickelt hatte, was mir bis anhin zumindest in beruflicher Hinsicht abgegangen war: Ehrgeiz. Mit einem Mal wusste ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich mochte meine Arbeit. Ich begann, meinen Job ernst zu nehmen. Was aber noch lange nicht hieß, dass ich dasselbe mit mir tat oder irgendjemandem, mit dem ich es zu tun kriegte.
    Ich sah zu Alice Graf hinüber, wie sie aufrecht und stolz vor der Tür stand. Eine Frau mit Klasse. Ein feines, melancholisches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die Türklinke hinunterdrückte. Ich las in ihrem Blick, dass sie meine Antwort bereits kannte. Die Tür schwang auf und der Rücken des jungen Polizisten war davor zu erkennen. Noch ein letztes Mal drehte sie sich um und sah mich eindringlich an.
    »Ich wollte ihn nicht umbringen«, sagte sie leise und trat hinaus.

Freitag
    Wir sahen ihr eine Weile zu, wie sie die Bilder abhängte, eines nach dem andern, sorgfältig und behutsam. Immer wieder verschwand sie im hinteren Teil der Galerie, den wir nicht einsehen konnten, erschien aber

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