Lichterfest
konnten, und regelmäßig schaute ich um Punkt halb acht die Tagesschau. In dieser Welt war ich ein Schweizer, auch wenn ich nicht so aussah.
War ich jedoch im Beisein meiner Eltern, verwandelte ich mich unversehens in einen Inder. Automatisch übernahm ich die typischen Gesten und Kopfbewegungen, wechselte Sprache und Körperhaltung und interessierte mich plötzlich für weit entfernte Verwandte in Kerala und die neusten Kricketresultate. Ich ignorierte das Besteck und aß von Hand, zuckte mein linkes Auge oder sah ich – etwas, das selbst an der an Exotik nicht armen Langstrasse äußerst selten vorkam – einen Elefanten vorübergehen, verhieß es mir Glück, juckte meine Nase, erhoffte ich mir Geldsegen. Ich achtete darauf, keine Milch zu verschütten, und fürchtete den Schrei des Pfaues, der Ungemach ankündigte; jede noch so zufällige Kleinigkeit hatte plötzlich eine unterschwellige, abergläubische Bedeutung. Auch ging ich ums Eck, um eine Zigarette zu rauchen, da man dies aus Respekt nicht vor den Eltern tat.
Kaum war ich allein, fiel das alles wieder von mir ab. Ich war knapp über dreißig, und Stück für Stück driftete die Welt meiner Eltern von meiner eigenen weg. Noch wechselte ich die Identitäten mit einer gewissen Leichtigkeit, auch wenn sich das schlechte Gewissen gegenüber der jeweils anderen Kultur regelmäßig meldete und ich mich zeitweise fühlte wie ein Verräter. Der Schritt über die indisch-schweizerische Grenze wurde jedoch immer mehr zum Spagat.
Als ich diesmal in den würzigen Dunst eintauchte, der das Lokal stets erfüllte, fiel mir als Erstes die angespannte Stille auf. Normalerweise begrüßte mich meine Mutter herzlich, ja beinahe euphorisch, doch heute erntete ich nur ein knappes Nicken. Und auch Manju, eine entfernte Cousine, die meine Mutter als Hilfe im Laden und kaum verhohlen als meine potenzielle zukünftige Ehefrau hatte einfliegen lassen, machte keinen Mucks. Stattdessen rührte sie mit gesenktem Kopf in einer hohen Pfanne, in der Daal, indisches Linsencurry, brodelte. Allerdings so heftig, dass immer wieder ein Schwall der senffarbenen Flüssigkeit herausspritzte und zischend auf dem Herd verbrannte.
Ich legte die Handflächen vor der Brust zusammen und beugte leicht den Kopf. »Namasté.«
Eiskaltes Schweigen schlug mir entgegen.
»Habt ihr euch gestritten?«, erkundigte ich mich.
Auch jetzt gab keine der beiden Frauen Antwort. Nur das Hacken des Messers, mit dem meine Mutter, eine energische, etwas untersetzte Frau, gerade Zwiebeln zerkleinerte, wurde etwas nachdrücklicher, während sich Manju noch tiefer über ihren Linsenbrei beugte. Als ich näher trat, sah ich Tränen über ihr Gesicht laufen. Besänftigend legte ich Manju die Hand auf die Schulter, die jetzt heftig zu zittern begann.
So sehr mich die durchschaubare Absicht meiner Mutter auch entsetzt hatte, mit der sie Manju in die Schweiz hatte kommen lassen – in den letzten Wochen war mir Manju mit ihrer lebenslustigen, spontanen Art ans Herz gewachsen. Auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, sie zu heiraten. Oder sonst irgendjemanden. Was mehr mit mir und meinem Lebenskonzept zu tun hatte als mit ihr. Fasziniert hatte ich ihr dabei zugesehen, wie sie sich an die Schweiz gewöhnte, wie sie sich immer mehr anpasste, den von starren Traditionen gezeichneten Staub ihrer ländlichen Herkunft abschüttelte, ohne diese dabei jemals zu verleugnen. Ich war hingerissen von ihrer mit Offenheit gepaarten Unschuld. Doch diese Unschuld stand auch wie eine gestrenge Anstandsdame zwischen uns. Meine vagen, mehr als vorsichtigen Annäherungen hatte sie bislang stets zurückgewiesen, charmant und lächelnd, aber eisern. Selbst ihre Hand hatte sie rasch zurückgezogen, wenn ich nach ihr fasste, zuerst errötend wie ein Schulmädchen, zunehmend aber gelassener, wie eine selbstsichere Frau, die weiß, was sie will. Und was nicht. Ich hatte noch nie so oft geseufzt wie in der kurzen Zeit, in der ich Manju kannte.
Still weinte sie jetzt vor sich hin, dann schob sie meine Hand, die noch immer auf ihrer Schulter ruhte, plötzlich und bestimmt weg.
Ich wandte mich an meine Mutter, die mit dem Rücken zu Manju an ihrem Schneidebrett stand. »Was ist hier los?«
Meine Mutter presste die Lippen zusammen und hackte steif weiter.
Ich nahm mir eine der frisch frittierten Pakoras, Gemüseklößchen im Backteig, die eine mit Haushaltspapier ausgelegte Glasschüssel füllten.
Ich musste abwarten, das war mir klar. Indische
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