Lichterfest
5 verband und am anderen Ende zu einem weiteren Neubau aus Glas und Beton führte, der von seinen Erbauern mit dem buchstäblich weit hergeholten Namen The Docks getauft worden war. Und das, obwohl von dort aus selbst an klaren Herbsttagen nirgendwo ein Hafen zu entdecken war und Zürich weder für seine Schifffahrt noch für seine Englisch sprechende Bevölkerung bekannt war. Aber ich war mir sicher, dass dahinter ein Konzept steckte, wenn auch nicht gerade ein augenfälliges.
Atemlos erreichten wir Josés Adresse an der Josefstrasse und hasteten die sechs Stockwerke zu seiner Mansarde hoch. Auf den letzten Stufen verlangsamte José seine Schritte. Auch mir ging die Puste aus, aber als ich aufblickte, sah ich den wahren Grund: Die Tür war aufgebrochen und nur angelehnt.
Wie elektrisiert stürzte José nun in die Wohnung und stieß einen wüsten Fluch aus.
Rasch folgte ich ihm und blieb erschrocken im Türrahmen stehen.
Der Boden war übersät mit Papieren, zerknitterten Zeitungen und Federn, die von der zerschnittenen Bettdecke stammen mussten. Auch der Matratze hatte man übel mitgespielt, sie sah aus wie eine aufgeschlitzte Scholle, aus der Schaumgummi quoll. Der Schreibtisch war umgestürzt, die Schubladen aus den Büromöbeln herausgezerrt, Kleider lagen überall herum. Es sah aus, als hätte ein Tornado gewütet oder sonst irgendetwas Entfesseltes mit einem Frauennamen. Und wie nach einem Unwetter herrschte auch hier eine merkwürdige Stille.
José hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und blies bestürzt die Backen auf, während er sich langsam im Kreis drehte und abschätzend das Chaos betrachtete.
»Der Computer fehlt. Die externe Festplatte mit den Sicherungskopien. Die CDs sind weg. Das sehe ich auf Anhieb.«
»Da war jemand ziemlich scharf auf die Fotos, würde ich meinen.«
»Osamas Postanschrift wird es kaum gewesen sein.« José stakste vorsichtig durch die Unordnung und spähte in den Wandschrank, der weit offen stand, sein Inhalt lag auf dem Boden davor.
»Der Fotoapparat ist auch weg.«
José lehnte sich an die Wand und sah mich besorgt an. Die Fotos schienen jemandem enorm wichtig zu sein, jemandem, der im Hintergrund seine Fäden zog. Der wusste, dass José die Bilder gemacht hatte, und nicht davor zurückschreckte, deswegen bei ihm einzubrechen und alles zu entwenden, was mit den Bildern zu tun hatte.
»Fehlt sonst noch was?«,fragte ich und lehnte mich gegen den Türrahmen.
»Meinst du tatsächlich? Oder das, was auf dem Nachweis für die Versicherung stehen wird?« Immerhin hatte José seinen Humor nicht ganz verloren.
»Ich sehe jedenfalls keinen 42-Zoll-Flachbildschirm mehr.«
»Hatte ich nicht auch noch eine Bang & Olufsen -Anlage?«
»Ich kann mich so schlecht erinnern. In der Ecke, in der das Sechstausend-Franken-Mountainbike stand? Solltest du jetzt nicht die Polizei rufen?«
Grübelnd ging ich die Langstrasse entlang zurück. Als ich Kemals Kiosk passierte, überflog ich rasch die Schlagzeilen der Tageszeitungen.
Raubmord! Brachte Hodler Graf den Tod?, geiferte die größte Boulevardzeitung des Landes in dicken schwarzen Lettern, während sich andere Blätter verhaltener gaben. Polizei geht von Kunstraub aus und Wahlkampf trotz Grafs Tod, titelten Tagesanzeiger respektive die altehrwürdige Neue Zürcher Zeitung. Das Wochenmagazin Weltwoche hingegen vermutete wie so oft eine Verschwörung: Hat die Linke Walter Graf auf dem Gewissen?, fragte sie auf ihrem Titelblatt, darunter wies sie auf einen weiteren Artikel im Heft hin: Walter Graf – Eine Heiligsprechung, vom Chefredakteur persönlich verfasst. Wer war Che Guevara wirklich?, las ich hingegen auf dem Aushang der linken Wochenzeitung WOZ.
Kurz entschlossen betrat ich das beengende Verkaufslokal, nahm mir eine Ausgabe des Revolverblattes vom Stapel und knallte das Geld auf den Tresen. Ehe Kemal mit seinem leutseligen Geschwätz beginnen konnte, war ich wieder auf der Straße. Ich wollte ihm nicht mehr zu nahe kommen, seine gierige Hand auf meinem Allerwertesten konnte ich fast noch spüren. Seinen lüsternen Blick, die vibrierenden Nasenhaare, den penetranten Knoblauchgeruch – daran würde ich ab jetzt jedes Mal denken müssen, wenn ich bei ihm eine Packung Zigaretten oder eine Zeitung kaufte. Ich wusste nicht, ob ich jemals darüber hinwegkommen würde.
Im Gehen blätterte ich die Gazette flüchtig durch. Die Ausgabe schien nur aus Artikeln über Graf zu bestehen, ich stieß jedoch auf keine neuen
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