Lichterfest
mich auf die Wange, wobei mich der Ärmel ihres mit Goldfäden durchwobenen schilfgrünen Umhangs streifte, der hervorragend zu ihren orangefarbenen Haaren passte. Darunter trug sie einen hellgrünen eng anliegenden Rollkragenpullover und eine hellbraune Wildlederhose. Als ich ihr Manju vorstellte, versteinerte ihre Miene für den Bruchteil einer Sekunde, doch schnell verzogen sich die Lippen wieder zu einem Lächeln, das diesmal jedoch ihre Augen nicht erreichte. Sie wandte sich etwas zu hastig ab und zog mich hinter sich her zur Bar.
»Du hast mir gar nicht erzählt, dass du eine Freundin hast, du Schlingel. Und noch dazu eine so hübsche! Wie alt ist sie denn?«
»Einundzwanzig, schon bald zweiundzwanzig«, kam mir Manju zuvor, die uns gefolgt war. Eleonora fuhr zusammen und musterte Manju mit einem Blick, der bestenfalls Abscheu verriet. Dann riss sie unvermutet den Kopf hoch und rief in einer viel höheren Tonlage: »Jacques! Amélie!«, bevor sie uns einfach stehen ließ.
Manju starrte ihr irritiert nach. Ich war ebenfalls verwirrt. Nur wenig erinnerte mehr an die warmherzige Frau, die noch gestern mit mir vor dem Lokal gesessen, entspannt Prosecco aus Plastikbechern getrunken und über das Quartier diskutiert hatte. Sie schien eine gänzlich andere Person geworden zu sein. Aufgedreht und oberflächlich. Vielleicht war es die Aufregung, versuchte ich sie zu entschuldigen, oder sie hatte etwas genommen. Allerdings war mir schon öfter bei Künstlern aufgefallen, dass allein die Aussicht auf eine Plattform, vor ein Publikum zu treten, schlagartig tiefschürfende Persönlichkeitsveränderungen hervorrufen konnte.
»Ach, Ralf, da bist du ja! Judith, meine Liebe, wie schön, euch zu sehen!« Eleonora reckte die Arme schon wieder in die Höhe und rauschte einem weiteren Paar entgegen, das aussah, als wären sie beide Architekten. Er, mit einer Direkt-aus-dem-Bett-Frisur und Dreitagebart, hatte eine schwarze Brille auf der Nase und steckte in einem entsprechenden Rollkragenpullover und verwaschenen, ausgebeulten Jeans. Sie trug zur blasierten Miene ein teuer aussehendes Kleid in Schwarz, eine übergroße Hildegard-Knef-Tribut-Brille und ein iPhone, das sie wie den Schlüssel zu einer Schatztruhe fest umklammert in der Hand hielt.
Überhaupt sah man überall iPhones. Es gab Leute, die schienen sich nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei gesellschaftlichen Anlässen, ja selbst unter Freunden hauptsächlich mit diesem flachen Telefon zu beschäftigen. Mit Hingabe streichelten und tippten sie ohne Unterlass auf dem Bildschirm herum, ihr Antlitz leuchtend, der Blick fiebrig flackernd, versanken sie in innige Interaktion mit diesem Ding, abgeschottet von der Welt. Die Wahrnehmung ihrer Umgebung funktionierte einzig durch periodisches, blitzschnelles Heben des Kopfes, bei dem ihr entrückter Blick kaum etwas zu registrieren schien. Wagte man es trotz aller Warnungen ihres näheren Umfelds sie anzusprechen, erntete man ein leeres Replikantenlächeln, die Kommunikation war sowieso längst in den rein virtuellen Bereich verlagert worden. Ich vermutete eine Art modernen Autismus dahinter und wunderte mich nur, dass bislang noch keines dieser zusätzlichen Anwendungsprogramme – Apps, wie es im Fachjargon hieß – für gute Kinderstube kreiert worden war.
An der Bar bestellte ich einen Whisky auf Eis für mich und einen Prosecco für Manju. Mit den Getränken in der Hand drängten wir uns durch das Vernissagepublikum. Natürlich hatte ich das eine oder andere Gesicht in der Quartierszene schon gesehen, eigentlich sogar die meisten. Doch während man sich in allen anderen Städten dieser Welt freute, Bekannte anzutreffen, war in Zürich das Gegenteil der Fall: Um sich ja nicht anzusehen, geschweige denn begrüßen zu müssen, guckte man so konzentriert zur Decke, als versuchte man, ohne Hilfsmittel die Rotationsgeschwindigkeit des Ventilators zu berechnen. Oder man schenkte seinem Drink, seinem Handy oder den Fingernägeln größte Aufmerksamkeit. So weltstädtisch man sich hier auch gern gab: Die Provinz saß im Kopf.
Manju blieb vor einem dieser Bilder stehen, auf dem Eleonoras Kommentar zum Quartier so explizit und detailgetreu war, dass selbst ich errötete. Rasch zog ich Manju weiter, wobei wir fast von der Künstlerin überrannt wurden, die quer durch den Raum schoss und dazu »Petula! Armin! Wie wundervoll!« zirpte.
Wir betrachteten die restlichen Bilder, doch ich konnte mich nicht konzentrieren.
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