Lichterfest
Blut ist in einem Menschen nicht drin, dass man durchbohrt noch stundenlang vor sich hin sprudelt.« Ich legte die Hände aneinander und presste meine Lippen gegen die Finger. »Außer …«
»Genau! Außer …« José hatte den gleichen Verdacht wie ich.
»Sie war dabei, als er die Treppe hinuntergestoßen wurde.«
»Oder sie war es selbst«, spann Miranda den Faden weiter.
»Das würde ein blutiges Kleid erklären. Aber was ist mit dem gestohlenen Bild? Und dem Motiv?«
Ich brainstormte. »Das Mädchen auf dem Foto? Eifersucht auf die junge Frau? Wut, weil er damit seine Wahl gefährdete?«
»Vielleicht. Aber sie schien mir immer so eine besonnene Frau zu sein. Und es wäre ziemlich unlogisch, ihn umzubringen, wenn er kurz vor seinem Lebensziel stand. Das sie ja auch mit unterstützte. Die Frage nach dem Gemälde wäre damit übrigens auch nicht geklärt. Und dass sie ihn einfach aus Eifersucht geschubst hat, glaube ich auch nicht. Sie war seine Seitensprünge ja gewohnt.«
»Vielleicht war Antonia der Tropfen, der das Fass zum überlaufen gebracht hat?«
»Nicht bei dieser Frau. Die hat schon ganze Reihen voller Fässer im Keller stehen und sich in der Öffentlichkeit nie etwas anmerken lassen, hat immer hinter ihrem Mann gestanden. Das nenn ich Klasse. Aber was ist mit Schluep?«
»Das hatten wir ja schon.« Ich winkte ab. »Der hätte rein gar nichts von Grafs Tod gehabt.«
»Es sei denn, Graf wäre nicht gewählt worden«, gab José zu bedenken. »Dann wäre auch der weitere Verlauf seiner Karriere gefährdet gewesen. Und das Bild ist immerhin mehr als zehn Millionen wert.«
»Richtig. Aber am Montag sah es noch ganz danach aus, als liefe alles nach Plan. Deswegen hat Schluep sich auch so verbissen an die Fotos gehängt, denn die hätten seiner Karriere tatsächlich schaden können. An dem Tag hatte er definitiv noch kein schlüssiges Mordmotiv.« Ich stutzte und sah in meinem Notizbuch nach. »Meine Zeugin hat allerdings bemerkt, dass nur Alice Graf aus dem Wagen gestiegen war, Schluep sei wieder weggefahren und erst später zurückgekehrt. Sie war also sicher eine Stunde allein mit ihrem Mann im Haus, während Schluep im Spital war und versucht hat, an die Aufnahmen zu gelangen, weswegen er von mir auch durchs Niederdorf gejagt wurde. Ein perfektes Alibi. Eigentlich kommt er weder als Dieb noch als Mörder infrage.«
»Alice hingegen hatte genügend Zeit, ihren Mann umzubringen, sich anders anzuziehen und eine halbwegs glaubwürdige Geschichte zu erfinden. Was ist dann aber mit dem Bild geschehen? Ein Ablenkungsmanöver?« José stöhnte. »Wir bewegen uns im Kreis. Und das Motiv fehlt nach wie vor.«
Wir starrten auf unsere gefüllten Gläser, die wir nicht angerührt hatten.
»Und was nun?«, fragte ich in die Runde, doch ich erhielt keine Antwort. Missmutig grübelnd musterte ich die aufgeschlagene Zeitungsseite mit dem Foto von Alice Graf und Martin Schluep. Es war zum Verzweifeln, ich kam einfach keinen Schritt weiter. Aus irgendwelchen Gründen fand ich den richtigen Denkansatz nicht. Als fehlte ein kleines Detail.
Ich setzte mein Glas an und leerte es bis zur Hälfte. Als ich es wieder hinstellte, fiel mein Blick auf den Artikel oberhalb des Bildes von Graf und Schluep, den der Fuß des Glases zuvor verdeckt hatte.
Beinahe hätte ich mich verschluckt. Ich vergegenwärtigte mir, was ich während der Busfahrt auf den Bildern gesehen hatte: Walter Graf war nicht allein in der Casa Aurelio gewesen. Es konnte durchaus sein, dass wir das Motiv die ganze Zeit vor der Nase gehabt, es aber nicht bemerkt hatten. Noch fehlte mir allerdings der entscheidende Beweis, um meinen Verdacht zu untermauern. Doch ich wusste jetzt, was ich zu tun hatte.
Die Nacht war kühl und feucht. Erster Frost war angekündigt, entsprechend klar war der Himmel über Zürich. Zu einer schmalen Sichel abgemagert hing der Mond neben der hell erleuchteten Kuppel der Universität, die majestätisch über der Stadt thronte. Vereinzelt glimmten Sterne am Firmament, einsame Punkte in der Tiefe des Alls. Wie immer kamen sie nicht gegen das Funkeln der Stadt an, die sich unter uns ausbreitete, ein bunt flackernder Lichterteppich, der den oberen Seerand kränzte und sich an den Hängen zu allen Seiten hinaufzog. Das nasse Gras schluckte das Geräusch unserer Schritte, bis wir einen säuberlich geharkten Kiesweg betraten. José und ich waren durch die Thujahecke von der hinteren Seite auf das Grundstück der Grafs gelangt,
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