Lichterspiele
denn sie war nun siebzehn, und das Leben bot keine Überraschungen mehr, befolgte Emma seinen Vorschlag. Sie fand eine Anstellung bei einer Familie namens Dupres, die in einem gro ßen Haus in St. Germain lebte. Es war ein sehr akademischer Haus halt: Der Vater war Medizinprofessor, die Mutter Lehrerin. Emma versorgte die drei wohlerzogenen Kinder, unterrichtete sie in Englisch und Italienisch und fuhr im August mit ihnen in die beschei dene Villa in La Baule, die der Familie gehörte. Und die ganze Zeit wartete sie geduldig, bis Ben wieder nach England kam. Er blieb achtzehn Monate in Japan, und als er zurückkehrte, nahm er den Weg über die Vereinigten Staaten, wo er einen Monat in New York verbrachte. Marcus Bernstein flog dorthin, um sich mit ihm zu treffen, und es war typisch, daß Emma den Grund für die ses Wiedersehen nicht von Ben selbst erfuhr, auch nicht von Leo, der gewöhnlich ihre Informationsquelle war, sondern aus einem langen, reichlich bebilderten Artikel in der französischen Zeit schrift Realites, der sich mit einem neuerbauten Museum in Queenstown, Virginia, befaßte. Dieses Museum war zum Gedenken an einen reichen Virginier namens Kenneth Ryan von seiner Witwe eingerichtet worden, und die Kunstabteilung sollte mit einer Retrospektive der Gemälde von Ben Litton, angefangen bei seinen Vorkriegslandschaften bis hin zu seinen neuesten abstrak ten Werken, eröffnet werden.
Eine derartige Ausstellung war sowohl eine Ehre als auch eine Huldigung und legte nahe, daß der Maler ein verehrter großer alter Mann der Kunst sei. Als Emma eine Fotografie von Ben betrachtete, voller Kanten und Kontraste, braungebranntes Gesicht, vorsprin gendes Kinn und schneeweiße Haare, da fragte sie sich, was er bei so viel Verehrung empfinden mochte. Er hatte sich sein Leben lang gegen Konventionen gesperrt, und sie konnte sich nicht vorstellen, daß er sich folgsam darin schickte, ein großer alter Irgendwas zu sein.
„Was für ein Mann!“ sagte Madame Dupres, als Emma ihr die Fotografie zeigte. „Er ist sehr attraktiv.“
„Ja“, sagte Emma seufzend. Genau das war immer das Problem gewesen.
Er kehrte im Januar mit Marcus nach London zurück und begab sich schnurstracks nach Porthkerris, um zu malen. Das wurde durch einen Brief von Marcus bestätigt. An dem Tag, als der Brief kam, ging Emma zu Madame Dupres und kündigte. Die Familie versuchte sie zu überreden, zu umschmeicheln, zu bestechen, um sie umzustimmen, aber sie war unerbittlich. Sie hatte ihren Vater seit sechs Jahren kaum gesehen. Es wurde Zeit, daß sie sich neu kennen lernten. Sie wollte zurück nach Porthkerris, um bei ihm zu leben.
Am Ende ließen die Dupres' sie ziehen, weil ihnen nichts anderes übrigblieb. Ihr Flug wurde gebucht, und sie fing an zu packen. Eini ges von dem, was sich in sechs Jahren angesammelt hatte, warf sie weg, den Rest stopfte sie in diverse ramponierte, weitgereiste Kof fer. Doch die reichten leider nicht aus, und Emma sah sich am Ende gezwungen, einen Korb zu kaufen, einen riesigen französischen Marktkorb, der die zahlreichen bizarr geformten Gegenstände auf nehmen konnte, die nirgendwo sonst hineinpassen wollten.
Es war ein grauer, kalter Nachmittag, zwei Tage vor ihrem Heimflug. Madame Dupres war zu Hause, daher erklärte Emma ihr, was sie vorhatte, ließ die Kinder bei ihr und ging allein fort. Überrascht stellte sie fest, daß es regnete, ein leichtes, kaltes Nieseln. Das Kopfsteinpflaster der schmalen Straße glänzte vor Nässe, und die hohen Häuser mit ihren verblaßten Farben standen still und verschlossen vor der Düsternis wie Gesichter, die nichts preisgaben. Auf dem Fluß tutete ein Schleppkahn, und eine einsame Möwe schwebte trübsinnig kreischend hoch oben im Nebel. Die Illusion von Porth kerris war plötzlich wirklicher als die Realität von Paris. Der Ent schluß zur Rückkehr, den sie so lange mit sich herumgetragen hatte, verdichtete sich jetzt zu dem Eindruck, sie sei bereits dort.
Diese Straße führte - nein, nicht auf die belebte Rue St. Germain, sondern zum Hafen hin. Jetzt würde die Flut hereinkommen, das Hafenbecken war dann angefüllt mit grauer See und tanzenden Booten, das Wasser schwappte bis jenseits der Nordpier, weiße Schaumköpfe krönten den Atlantik. Und dann die vertrauten Gerü che - Fisch vom Markt und heiße, safrangelbe Brötchen vom Bäcker; die vielen kleinen Sommergeschäfte waren in dieser Jahreszeit geschlossen, die Rolläden heruntergelassen. Und hinten im Atelier
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