Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
dem Zimmer ihrer Schwester stibitzt hatte, von dem kleinen Metallhocker im Hinterhof und rieb es in ihre Haarpracht. Schnell hatte sich der Schaum vor Schmutz dunkel gefärbt. Jil stöhnte. Ihr Hals kratzte und ihr Kopf schmerzte. Wahrscheinlich hatte sie sich bei ihrem nächtlichen Badeausflug erkältet. Es war noch früh am Morgen, ihren Vater hatte Jil seit dem Vortag nicht mehr gesehen. Sie hatte auch aufgehört, sich darüber zu wundern. In der letzten Nacht war sie froh gewesen, dass er nichts von ihrer Unternehmung mitbekommen hatte.
Jil nahm den Eimer in beide Hände und schüttete sich dessen Inhalt über den Kopf. Ihr stockte der Atem und ihr Herz machte einen Sprung. Das Wasser war wirklich unsagbar kalt, aber Jil war zu faul gewesen, um es über dem Feuer zu erwärmen. Als auch der letzte Rest des Schaums im Rinnstein verschwunden war, wrang Jil ihre Haare aus und machte sich eifrig daran, sie mit den Fingern zu entwirren. Es nutzte nicht viel, sie würde in jedem Fall eine Bürste benötigen, um die Knoten zu lösen.
»Was machst du denn so früh am Morgen schon am Brunnen?«
Jil fuhr vor Schreck zusammen und drehte sich um. Ihre Schwester stand im Nachthemd auf der Hintertreppe und warf ihr fragende Blicke zu.
»Das siehst du doch, ich wasche mich«, sagte Jil harscher als beabsichtigt.
»Ist das dort etwa ein sauberes Kleid?« Ihre Schwester deutete auf das sorgsam zusammengefaltete Kleidungsstück, das auf dem Metallhocker lag. Sie schien den Anblick belustigend zu finden, denn ein Kichern entwich ihrer Kehle.
Jils Augen verengten sich vor Zorn. »Ja, da siehst du ganz richtig. Hast du ein Problem damit?«
Dana schüttelte den Kopf, aber ihre Lippen umspielte ein Schmunzeln. »Es sieht dir einfach nicht ähnlich. Wirst du nun endlich erwachsen?«
Jil griff nach dem Kleid, stieg die Treppe hinauf und stapfte an Dana vorbei. Sie war wütend auf ihre Schwester, auch wenn sie sich nicht einmal erklären konnte, weshalb. Sie fühlte sich ertappt.
»Hey, du hast da was vergessen.« Dana stieg die Treppe hinab und hob etwas vom Boden auf. Es war das kleine Instrument, das Cryson Jil in der Nacht zuvor geschenkt hatte. Jil machte auf dem Absatz kehrt und stürzte zurück, mehrere Stufen auf einmal nehmend. Sie riss Dana die Flöte aus der Hand und hängte sich den Lederriemen, an den sie das Instrument befestigt hatte, um den Hals.
»Wo hast du das gestohlen?« Danas Blicke hafteten auf dem goldenen Gegenstand. In ihrer Stimme lag ein Hauch von Ehrfurcht.
»Ich habe es nicht gestohlen. Das hat mir jemand geschenkt«, sagte Jil mit schnippischem Unterton.
»Hör auf zu lügen, wer sollte dir etwas so Wertvolles schenken?«
»Das geht dich überhaupt nichts an. Aber falls es deine Neugier befriedigt: ein hübscher reicher Gentleman hat es mir geschenkt.«
Jil ignorierte Danas weitere Kommentare und ging hinauf in ihr Zimmer. Dort streifte sie ihr Nachthemd ab und schlüpfte in das Kleid, das sie seit Jahren nicht getragen hatte. Es passte ihr immer noch. Es war aus grünem Leinen gefertigt, der Saum reichte ihr bis an die Knöchel. Sie ließ sich auf die Knie sinken und zog eine kleine Holzschatulle unter ihrem Bett hervor. Sie kramte und wühlte in ihren wenigen Habseligkeiten und zog schließlich eine Haarbürste hervor.
»Da ist sie ja.«
Jil hatte sie lange Zeit nicht mehr benutzt. Ihr Haar machte nicht oft Bekanntschaft mit einer Bürste, und wenn, dann übernahm meistens ihre Schwester das Kämmen für sie, natürlich nicht ohne Jils laute Proteste.
Jil setzte sich auf die Bettkante und begann, ihre Haare zu frisieren. Dabei dachte sie darüber nach, wie sie den heutigen Tag verbringen würde. Sie hätte nachsehen können, ob Firio zurückgekehrt war. Vielleicht erbeutete sie auf dem Weg dorthin den einen oder anderen Schilling. Heute war ein Werktag, es würden sich wieder viele Menschen auf den Straßen von Haven tummeln. Seltsamerweise verspürte Jil keine Vorfreude. Sie verspürte nicht einmal Lust, den Weg bis in die Innenstadt zurückzulegen. Sie fühlte sich nicht gut. Fieberte sie vielleicht sogar? Jil griff sich mit der Handfläche an die Stirn. Sie war ganz kühl. Wenn sie sich entschied, das Haus heute nicht zu verlassen, würde Dana sie sicherlich zur Hausarbeit heranziehen. Vielleicht würde sie ihr sogar beim Kerzenziehen helfen müssen. Kein schöner Gedanke.
Jil seufzte. Sie legte die Bürste beiseite und zog die kleine Flöte hervor, die in ihrem Ausschnitt baumelte.
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