Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
ihres Gefängnisses befand sich im Erdgeschoss. Mehrere Sedharym eilten durch die große Halle, einige von ihnen mit den für sie typischen beschleunigten Bewegungen, die auf Jil noch immer absonderlich wirkten. Die Latris, die dampfbetriebenen Fahrzeuge der Sedharym, wuselten wie Ameisen durch das Meer von Stalagmiten und Gesteinsbrocken. Surrende und zischende Geräusche erfüllten die Stadt. Die Sicht war schlecht, die Luft von Dampf und Rauch erfüllt. Die wenigen Laternen, die die Kreuzungspunkte der Straßen markierten, warfen ein diffuses Licht auf die Wege darunter. Hinter den Fenstern der anderen Säulenhäuser, die sich über den Raum verteilten, war es dunkel. Jil wusste, dass die Sedharym kaum Licht benötigten, um perfekt sehen zu können.
Jil klopfte gegen die Fensterscheibe. »Hallo!«, rief sie ein weiteres Mal.
Von ihrem Standort aus beobachtete sie, wie der Fahrstuhl sich jäh in Bewegung setzte, im ersten Stockwerk zum Stehen kam und nach einer Pause seine Fahrt nach oben fortsetzte. Dann rumpelte es an Jils Zimmertür. Einen Lidschlag später schwang sie mit einem Zischen auf. Endra erschien auf der Schwelle.
»Hast du gerufen?«, fragte sie. Sie trug ein dunkelblaues Kleid, ihr blondes Haar war geflochten. Ihre schmalen grauen Augen blickten Jil erwartungsvoll an.
»Ja, ich habe gerufen.« Jil verschränkte die Arme vor Brust. »Ich hatte schon gedacht, es würde mich überhaupt niemand mehr hören.« Ihr Tonfall war harscher als beabsichtigt.
»Entschuldigung. Was ist denn los?« Endra sprach stets leise, doch Jil hatte trotz ihrer offensichtlichen Schüchternheit großen Respekt vor der hübschen Sedhar, denn sie wusste um ihre enormen Kräfte.
»Ich muss auf die Toilette.«
Endra nickte und trat zurück in den Aufzug. Jil folgte ihr auf dem Fuß. Endra begleitete Jil stets durch die Halle bis zu Crysons privatem Bade- und Toilettenhaus. Jil kannte den Weg bereits auswendig, trotzdem beobachtete man alle ihre Schritte sorgsam. Anfangs hatte Jil sich lauthals darüber beschwert, aber Cryson bestand darauf, sie Tag und Nacht bewachen zu lassen.
Das Toilettenhaus lag etwas abseits in einem der zahlreichen Gänge. Es war stockfinster dort. Jil hatte sich daran gewöhnt. Zielsicher griff sie nach der Tür und betrat den winzigen Raum. Endra wartete draußen. Jil tastete nach der Keramikschüssel und der Kette für die Wasserspülung. Bis zu ihrer Ankunft in Sedhia hatte Jil niemals ein Wasserklosett benutzt. Dies war ein Luxus, der ausschließlich den reichen Familien in Haven vorbehalten war.
Jil legte den Kopf in den Nacken. Wie jedes Mal spürte sie den kühlen Luftzug auf dem Gesicht. Es musste eine Lüftung an der Decke geben. Cryson hatte ihr einmal erzählt, dass ganz Sedhia mit einem Lüftungssystem versehen war, ein riesiges Netz an Rohren und Schächten, die irgendwo in Haven an die Oberfläche stießen. Die Rohre, die quer durch Crysons Privatgemächer führten, hatten Jil auf diese abenteuerliche Idee gebracht.
Sie atmete noch einmal tief durch, dann setzte sie einen Fuß auf die Toilettenschüssel. Mit den Händen tastete sie die Wände ab. Tatsächlich fand sie in der Decke eine Öffnung, die mindestens einen halben Yard breit war. Der Luftzug auf ihrer Haut verstärkte sich. Mit einem mutigen Sprung stieß Jil sich ab und griff mit den Händen in den Schacht. Das unbearbeitete Gestein gab ihr Halt. Mit aller Kraft zog Jil sich hinauf. Der Schacht führte nicht senkrecht, sondern schräg nach oben, was Jil die Möglichkeit gab, ihren Körper mit Händen und Füßen am Herausrutschen zu hindern.
Zum Glück bin ich so klein und schmal, dachte sie.
Ihr Vorhaben war absurd und zum Scheitern verurteilt, trotzdem konnte Jil ihren Freiheitsdrang nicht unterdrücken. Sie musste einfach nach draußen. Vielleicht würde sie doch noch ihre Familie besuchen können.
Zielsicher zog sie sich Stück für Stück weiter hinauf. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Endra Verdacht schöpfte, deshalb beeilte Jil sich. Sie hatte großes Glück, denn der Gang verjüngte sich auf seinem Weg nach oben kaum.
Jil hatte jegliches Gefühl dafür verloren, wie weit sie sich bereits hinauf gezogen hatte. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie in der Lage gewesen wäre, umzukehren. Sie hörte Klopfgeräusche unter sich, vielleicht hatte man ihre Abwesenheit bereits bemerkt. Der Stoff ihrer Bluse war längst zerrissen, die Haut an ihren Schultern und Händen abgeschürft. Jil hatte alle Mühe,
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