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Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren

Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren

Titel: Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Sinclair
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Magiersinne sorgfältig durch den Palast schweifen zu lassen. Am Bahnhof war sie von den Angreifern überrumpelt worden – so etwas durfte ihr keinesfalls ein zweites Mal passieren. Nachdem alles so zu sein schien, wie es sein sollte, machte Telmaine sich auf den Weg durch die vielen Korridore zu jenen Gemächern, in denen sie und ihre Familie Zuflucht gefunden hatten.
    Die Zimmer waren überaus gründlich aufgeräumt worden, sogar ihre Kleider und Toilettenartikel hatte man fortgeschafft. Diese Säuberungsaktion trug fraglos Merivans Handschrift, sie hatte sich vor Eifer wieder einmal selbst übertroffen. Telmaine hätte ihre älteste Schwester von Herzen verabscheut, wäre sie als Magierin nicht dazu verdammt gewesen, die Ärmste zu verstehen – schließlich war sie durch unzählige Berührungen über Merivans Gefühle und Gedanken bestens informiert. Als Mann hätte ihre Schwester mit Sicherheit einen hervorragenden Anwalt und, früher oder später, auch einen hohen Richter abgegeben. Doch als Frau, die allein aus Prinzip an Sitte und Anstand gebunden war, plagte sie eine Langeweile, die auch nicht durch diverse Schwangerschaften oder die endlosen gesellschaftlichen Verpflichtungen vertrieben werden konnte.
    Merivan sollte ein kleines Geheimnis haben, dachte Telmaine. Das würde ihr Leben gleich viel reizvoller machen.
    Sie raschelte hinüber zu einem der Sessel und ließ sich hineinsinken. Erst jetzt, da sie zur Ruhe kam, wurde ihr bewusst, wie erschöpft sie eigentlich war. Lange konnte sie jedoch nicht sitzen bleiben, sonst würde sie einfach einschlafen. Erneut schickte sie ihre Magiersinne durch den Palast und fand Fürst Vladimer und den Erzherzog, diesmal eng beisammen. Ihrer beiden Lebensenergien waren zwar unverwechselbar, aber einander dennoch ähnlicher, als ihre unterschiedlichen Gemüter vermuten ließen. Zeigte sich Blutsverwandtschaft etwa in den Strukturen der Lebensenergie? Telmaine hätte nie gedacht, dass sie sich diese Frage jemals stellen würde. Langsam drehte sie ihren Kopf in die Richtung, in der etwa eine Meile entfernt Merivans Haus lag, und sandte ihre Magiersinne aus, um die beiden Menschen zu suchen und zu finden, die ihr vertrauter waren als alle anderen auf der Welt – ihre kleinen Töchter. Deren Lebensenergien schienen sich deutlich voneinander zu unterscheiden: die kühne Florilinde und die neugierige Amerdale. Doch beide Mädchen waren vor Sorge und Angst dermaßen verstört, dass es ihr fast das Herz brach. Telmaine streichelte sie zärtlich, wenn sie es auch nicht fühlen konnten, und gab ihnen sanft ein Versprechen, wenn sie es auch nicht hören konnten: Bald. Bald bin ich wieder da. Bald gehen wir nach Hause. Bald hat das Ganze ein Ende. Bald.
    Obgleich Ishmael di Studier im Expresszug zur Grenze saß, schien er ihr kaum weiter entfernt als ihre Töchter – so deutlich spürte sie seine Präsenz. Und obwohl sein Geist noch immer diese Aschenglut ausstrahlte, an der sie sich so oft gewärmt hatte, fühlte sich seine Magie ungemein schwach an, wie erkaltete Kohle. Es war eine bodenlose Ungerechtigkeit, dass er verlieren und sie behalten sollte, was ihm so wichtig und für sie so belastend war. Bei ihrer ersten Diskussion über Magie hatte Telmaine gesagt, dass sie ihm liebend gern all ihre magischen Kräfte geben würde – und das hätte sie auch getan. Doch so funktionierte Magie nun einmal nicht: Ishmael war lediglich ein Magier ersten Ranges, sie möglicherweise eine Magierin sechsten Ranges, und von dem derzeit mächtigsten lichtgeborenen Magier erzählte man sich, dass er den achten Rang innehatte. Großmütig wie eh und je hatte Ishmael sie in ihrer Magie angeleitet, sie an seinen Erfahrungen und seinem Verständnis für magische Strukturen teilhaben lassen und sich letzten Endes mit seinen eigenen spärlichen Kräften übernommen, um ihr Leben zu retten.
    Sie würde diese Geschenke und das Gefühl seiner Aschenglut bis an ihr Lebensende im Herzen tragen, und wenn sich das für eine verheiratete Frau nicht ziemen sollte, dann war dem eben so.
    ›Ishmael‹, flüsterte sie in seinem Kopf.
    Sie spürte, wie er schlagartig erwachte, spürte seine Bewegungen, als er sich aufrecht hinsetzte, seine Hand zu dem Mann ausstreckte, der auf der Couch neben seinem Sessel unter einer Decke döste, und diesen wachrüttelte – ihren Ehemann, Balthasar Hearne.
    »Telmaine«, sagte Ishmael laut mit seinem charakteristischen Grenzlandakzent. »Ich freue mich, von Ihnen zu hören.

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