Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
dünnes Lächeln. Jedes Wort, das Pauls beruhigende, tiefe Stimme sprach, brachte ihn ein wenig weiter in die Wirklichkeit zurück. Er setzte sich im Bett auf und schlug die
Decke
zurück.
»Papa muss noch Draht zwischen den Sachen in der anderen Mansarde haben«, sagte Paul. »Aber wir wollen zuerst diesen Schnee rausschaffen, bevor er schmilzt. Sieh, es kommt noch mehr herein. Wetten, dass es nicht viele Häuser gibt, in denen man den Schnee auf den Teppich fallen sieht?«
Er hatte Recht: Durch das schwarze Loch in der Decke wirbelten Schneeflocken und verteilten sich im Raum. Gemeinsam kratzten sie so viel wie möglich auf einer alten Zeitschrift zu einem formlosen Schneeball zusammen und Will lief schnell nach unten und warf ihn in die Badewanne. Paul befestigte das Fenster mit einem Stück Draht wieder an der Halterung des Riegels.
»Das wär's«, sagte er munter, und obgleich er sich nicht nach Will umwandte, verstanden sie einander einen Augenblick lang sehr gut. »Ich will dir was sagen, Will, hier oben ist's eisig — komm doch mit runter in unser Zimmer, du kannst in meinem Bett schlafen. Wenn ich später nach oben komme, wecke ich dich — oder ich könnte auch hier oben schlafen, wenn du Robins Schnarchen ertragen kannst. Recht so?«
»Ja«, sagte Will mit belegter Stimme, »danke.«
Er suchte seine verstreuten Kleider zusammen — auch den Gürtel mit dem neuen Schmuckstück — und klemmte das Bündel unter den Arm. In der Tür blieb er noch einmal stehen und warf einen Blick zurück. Es war jetzt nichts mehr zu sehen außer dem feuchten Fleck auf dem Teppich, wo der Schneehaufen gelegen hatte. Aber er spürte eine Kälte, die nicht nur von der kalten Luft herrührte, und das kranke, leere Gefühl der Angst lag noch auf seiner Brust. Wenn nichts anderes gewesen wäre, als seine Angst vor der Dunkelheit, hätte er um nichts in der Welt Zuflucht in Pauls Zimmer gesucht. Aber so wusste er, dass er nicht allein in dem Zimmer bleiben konnte, in das er eigentlich gehörte. Denn als sie den Schnee aufgefegt hatten, hatte er etwas entdeckt, das Paul nicht gesehen hatte. Bei diesem heulenden Schneesturm war es eigentlich unmöglich, dass ein lebendes Wesen gegen das Fenster gefallen war, mit diesem Aufprall, den er gehört hatte, bevor das Fenster herunterfiel. Aber vergraben im Schnee hatte er die frische schwarze Schwungfeder einer Krähe gefunden.
Er hörte wieder die Stimme des Bauern:
Die Nacht wird schlimm werden und morgen wird es schlimmer, als du dir vorstellen kannst.
Der Reiter
Musik weckte ihn auf. Sie winkte ihm, süß und eindringlich, eine zarte Musik, die von zarten Instrumenten gespielt wurde, die er nicht kannte; eine Tonfolge von Glockenklängen zog sich wie ein goldener Faden der Freude hindurch. In dieser Musik lag so viel vom verborgensten Zauber seiner Träume und Vorstellungen, dass er bei diesem Klang mit einem Lächeln reinsten Glückes erwachte. Im Augenblick seines Erwachens begann die Musik zu verklingen, sie winkte ihm gleichsam zum Abschied, und als er die Augen öffnete, war sie vergangen. Nur die Erinnerung an das plätschernde Auf und Ab des Motivs klang in seinem Kopf nach, aber auch dies verflüchtigte sich so schnell, dass er sich im Bett aufsetzte und die Arme ausstreckte, als könnte er die Melodie aufhalten.
Im Zimmer war es ganz still, nichts war zu hören und doch wusste Will, dass er nicht geträumt hatte.
Er war noch im Zimmer der Zwillinge; er konnte im anderen Bett Robin tief und langsam atmen hören. Um die Ränder des Vorhangs war ein kalter Lichtstreifen, aber im Haus regte sich nichts. Es war noch sehr früh. Will zog die zerknüllten Kleider vom Vortag über und schlüpfte aus dem Zimmer. Er ging durch die Diele auf das mittlere Fenster zu und blickte nach unten.
Mit dem ersten geblendeten Blick sah er die ganze vertraute und doch fremde Welt in einem glitzernden Weiß; die Dächer der Nebengebäude waren viereckige, hoch gehäufte Schneetürme, dahinter lagen die Felder und Hecken begraben im Schnee und bildeten bis zum Horizont eine ebene, ungebrochene weiße Fläche. Will tat einen tiefen, glücklichen Atemzug, einen stummen Freudenschrei. Dann, ganz schwach, hörte er wieder die Musik, dieselbe Melodie. Er fuhr herum, suchte mit den Blicken in der Luft, als könnte er sie irgendwo wie ein flackerndes Lichtchen sehen.
»Wo bist du?«
Wieder war die Melodie verstummt. Und als er noch einmal durchs Fenster blickte, war auch seine eigene Welt
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