Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
Will lange danach zu Bett ging, schob er den Vorhang in seinem Schlafzimmer zur Seite und presste die Nase gegen die kalte Fensterscheibe. Draußen fiel der Schnee noch dichter als zuvor. Auf dem Fensterbrett lag er schon drei oder vier Zentimeter hoch. Er konnte beinahe sehen, wie die Schicht wuchs, da der Wind den Schnee auf das Haus zutrieb. Er konnte auch den Wind hören, wie er dicht über seinem Kopf um das Dach und in den Kaminen heulte. Will schlief unter dem Dach des alten Hauses in einer Mansarde mit schrägen Wänden; er war erst vor ein paar Monaten hier heraufgezogen, als Stephen, dessen Zimmer es gewesen war, nach einem Urlaub auf sein Schiff zurückgekehrt war. Bis dahin hatte Will immer mit James zusammen in einem Zimmer geschlafen — alle Kinder teilten das Zimmer mit einem der Geschwister. »Aber jemand sollte auch in meiner Mansarde wohnen«, hatte sein ältester Bruder gesagt, denn er wusste, wie sehr Will das Zimmer liebte.
Auf dem Bücherbord in der einen Zimmerecke stand jetzt das Bild des Leutnants zur See Stephen Stanton, der sich in seiner Ausgehuniform nicht recht wohl zu fühlen schien. Daneben stand ein geschnitztes Holzkästchen mit einem Drachen auf dem Deckel, in dem sich die Briefe befanden, die er manchmal aus unvorstellbar weiten Fernen an Will schickte. Diese beiden Gegenstände bildeten eine Art privates Heiligtum von Will.
Der Schnee wurde gegen das Fenster gewirbelt, es hörte sich an, als strichen Fingerspitzen über die Scheibe. Wieder hörte Will den Wind im Dachstuhl stöhnen, lauter als zuvor; er wuchs zu einem richtigen Sturm an. Will dachte an den Landstreicher; wo mochte er untergekrochen sein?
Der Wanderer ist unterwegs ... die Nacht wird schlimm werden ...
Er nahm seine Jacke vom Stuhl und holte das seltsame eiserne Schmuckstück aus der Tasche. Mit den Fingerspitzen fuhr er den Kreis entlang, er ließ sie an dem Kreuz hin- und herlaufen, das den Kreis in vier Teile teilte. Die Oberfläche des Eisens war ungleichmäßig, aber obgleich es nicht poliert zu sein schien, war es ganz glatt. Diese Art der Glätte erinnerte ihn an eine bestimmte Stelle in den rauen Steinplatten des Küchenbodens, wo die Rauheit des Steins von Generationen von Füßen glatt geschliffen worden war, die sich hier, von der Tür her kommend, umdrehten. Es war eine besondere Art von Eisen: von einem tiefen, absoluten Schwarz, das keinen Glanz zeigte, aber auch keine Rost- oder sonstigen Flecken. Das Eisen fühlte sich jetzt wieder kalt an, so kalt, dass Will erschrak, seine Fingerspitzen wurden ganz taub vor Kälte. Hastig legte er es nieder. Dann zog er den Gürtel aus den Schlaufen der Hose, die wie gewöhnlich unordentlich über die Stuhllehne geworfen war. Er nahm den Ring und schob ihn wie eine zweite Schnalle auf den Gürtel, so wie Mr. Dawson es ihm gesagt hatte. Der Wind sang im Fensterrahmen. Will zog den Gürtel wieder durch die Schlaufen und warf die Hose auf den Stuhl.
In diesem Augenblick überfiel ihn, ganz ohne Vorwarnung, die Angst.
Die erste Welle überraschte ihn, während er quer durchs Zimmer auf sein Bett zuging. Er blieb stocksteif mitten im Raum stehen, das Heulen des Windes draußen in den Ohren. Der Schnee peitschte gegen das Fenster. Will spürte plötzlich eine tödliche Kälte und doch glühte er von Kopf bis Fuß. Er war so erschreckt, dass er keinen Finger rühren konnte. Ein Bild zuckte durch sein Gedächtnis: Er sah wieder den tief hängenden Himmel über dem Wäldchen, schwarz von Krähen, die kreisten und flatterten. Dann war dieses Bild verschwunden, er sah nun das entsetzte Gesicht des Landstreichers und hörte seinen Schrei, während er davonrannte.
Dann kam ein Augenblick, wo nur eine schreckliche Dunkelheit sein Bewusstsein füllte, es war ein Gefühl, als blicke er in einen tiefen, schwarzen Abgrund. Dann legte sich das hohe Pfeifen des Windes und er war erleichtert.
Er stand zitternd da und blickte wild um sich. Es war nichts zu sehen, was ihn hätte erschrecken können. Alles war genau wie immer. Es kommt alles nur vom Grübeln, sagte er sich. Alles wäre wieder gut, wenn er mit Denken aufhören und einschlafen könnte. Während er ins Bett kletterte, streifte er den Bademantel ab. Dann lag er da und blickte zu dem Klappfenster in der Dachschräge auf. Es war mit Schnee bedeckt, der grau wirkte.
Er löschte die kleine Nachttischlampe und die Nacht verschlang das Zimmer. Selbst als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, war kein Schimmer
Weitere Kostenlose Bücher