Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
breitschultrig war, sich für Technik interessierte und ein ausgezeichneter Fußballspieler war, fand er es unter seiner Würde, für eine so feinsinnige Tätigkeit wie das Weihnachtssingen Interesse zu zeigen. In Wirklichkeit liebte er die Musik wie alle anderen Geschwister und hatte eine angenehme, tiefe Stimme.
»Ich hab zu viel zu tun«, sagte Gwen, »tut mir Leid.«
»Damit meint sie«, bemerkte Mary aus sicherer Entfernung, »dass sie sich das Haar waschen muss, für den Fall, dass Johnnie Penn vorbeikommt.«
»Was soll das heißen: für den Fall«, sagte Max, der neben seinem Vater saß.
Gwen schnitt ihm eine Fratze. »Und du?«, fragte sie. »Willst du nicht Weihnachtssingen gehen?«
»Ich hab noch mehr zu tun als du«, entgegnete Max träge. »Tut mir Leid.«
»Und er meint damit«, sagte Mary, die sprungbereit an der Tür stand, »dass er oben in seinem Zimmer noch einen riesenlangen Brief an seinen blonden Vogel in Southampton schreiben muss.«
Max zog einen Pantoffel aus, um damit nach ihr zu werfen, aber sie war schon weg.
»Vogel?«, sagte sein Vater. »Was wird es wohl nächstens sein?«
»Du lieber Himmel, Papa!« James sah ihn entsetzt an. »Du lebst wirklich noch in der Steinzeit. Mädchen sind schon seit dem Jahr eins Vögel. Und ebenso viel Gehirn haben sie auch, wenn du mich fragst.«
»Manche richtigen Vögel haben ziemlich viel Verstand«, sagte Will nachdenklich. »Findet ihr nicht?« Aber der Zwischenfall mit den Krähen war so völlig aus James' Gedächtnis verschwunden, dass er gar nicht auf die Worte achtete; sie prallten an ihm ab.
»Also weg mit euch«, sagte Mrs. Stanton. »Stiefel, dicke Mäntel und um halb neun seid ihr zurück.«
»Halb neun?«, sagte Robin. »Wenn wir für Miss Bell drei Lieder singen und Miss Greythorne uns zum Punsch hereinbittet?«
»Gut, aber allerspätestens um halb zehn«, erwiderte sie.
Als sie aus dem Haus traten, war es sehr dunkel; der Himmel war bedeckt, weder der Mond noch ein einziger Stern erhellten die schwarze Nacht. Die Laterne, die Robin auf einer Stange trug, warf einen glitzernden Lichtkreis in den Schnee. Außerdem hatte jeder von ihnen eine Kerze in der Tasche, die alte Miss Greythorne im Schloss würde darauf bestehen, dass sie hineinkamen und sich in der großen Eingangshalle mit den Steinfliesen aufstellten. Die Lichter wurden dann gelöscht und nur die Kerzen brannten, die die Sänger in den Händen hielten.
Die Luft war eisig, der Atem bildete dicke weiße Wolken vor ihren Mündern. Nur vereinzelte Schneeflocken kamen vom Himmel heruntergesegelt und Will dachte an die dicke Frau im Bus und was sie prophezeit hatte. Barbara und Mary schwätzten gemütlich und die Schritte der kleinen Schar klangen kalt und hart auf dem festgetretenen Schnee der Straße.
Will war glücklich. Es war Weihnachten und er freute sich auf das Singen; er tappte in einem zufriedenen Traumzustand dahin, die große Sammelbüchse unter den Arm geklemmt: Sie wollten für die kleine uralte, berühmte, aber sehr verfallene romanische Kirche von Huntercombe sammeln. Schon waren sie an Dawsons Hof angekommen und standen vor der Hintertür, über der ein Riesenstrauß rotbeeriger Stechpalmen prangte. Das Weihnachtssingen hatte begonnen.
Sie sangen sich durch das ganze Dorf hindurch: »Weihnacht«, für den Pfarrer; »Gott grüß euch, liebe Herren«, für den munteren Mr. Hutton, den dicken Geschäftsmann in dem neugotischen Haus am Ende des Dorfes; »Einst in König Davids Stadt«, für Mrs. Pettigrew, die verwitwete Posthalterin, die ihr Haar mit Teeblättern färbte und ein kleines Hündchen hatte, das aussah wie ein Strang grauer Wolle. Sie sangen »Adeste Fideles« auf Latein und »Les anges dans nos campagnes« auf Französisch für die winzige Miss Bell, die pensionierte Volksschullehrerin, die ihnen allen Lesen und Schreiben, Addieren und Subtrahieren, Sprechen und Denken beigebracht hatte, bevor sie auf die auswärtigen Schulen gingen. Und die kleine Miss Bell sagte »Schön, schön«, tat ein paar Münzen, von denen sie wussten, dass sie sie nicht entbehren konnte, in die Sammelbüchse und drückte jeden Einzelnen ans Herz. — »Fröhliche Weihnachten — Fröhliche Weihnachten!« — schon waren sie unterwegs zum nächsten Haus auf der Liste.
Es waren noch vier oder fünf, eins davon das Heim der düsteren Mrs. Horniman, die einmal in der Woche für ihre Mutter putzte. Sie war im Osten von London geboren und hatte dort gelebt, bis eine Bombe ihr
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