Lichtjäger - Die Wintersonnenwende-Saga
Anziehungskraft lag in der erstaunlichen Genauigkeit eines jeden Details. In eleganter Schrift war es mit
Die Römer in Caerleon
betitelt und es zeigte den Bau eines großen Bauwerks. Überall waren unzählige Leute damit beschäftigt, an Seilen zu ziehen, Ochsengespanne zu führen, Felsplatten an ihren Platz zu bringen. Der gepflasterte Boden des inneren Gebäudes war fertig gestellt, glatt und ellipsenförmig und von auf Säulen ruhenden Rundbögen umgeben; dahinter schien sich eine Mauer oder eine Treppe zu erheben. Römische Soldaten in prächtigen Uniformen beaufsichtigten die verschiedenen Gruppen beim Abladen und Anpassen der sauber bearbeiteten Steine.
Will suchte nach einem bestimmten Soldaten, einem Zenturio, der sich in der äußeren rechten Ecke im Vordergrund an eine Säule lehnte. Er war die einzige stille Figur in dem ganzen Panorama geschäftiger Bautätigkeit; sein Gesicht, in allen Einzelheiten deutlich zu erkennen, war ernst und fast traurig und er blickte aus dem Bild hinaus, in die Ferne. Wegen dieser traurigen Entrücktheit hatte Will als kleiner Junge diese eine, so ganz andere Figur immer interessanter gefunden als all die übrigen hastenden Arbeiter zusammen. Das war auch der Grund, warum Merriman den Mann für das Verbergen der Zeichen ausgewählt hatte.
Merriman. Will setzte sich auf die Treppe, das Kinn auf die Hände gestützt. Er musste nachdenken, angestrengt und scharf nachdenken. Es war leicht genug, sich zu erinnern, wie er und Merriman es fertig gebracht hatten, den vereinten Kreis der Sechs Zeichen zu verstecken, die mächtigsten — und die gefährdetsten — Waffen des Lichts. Sie waren zurück in die Zeit dieses Römers gegangen, und dort, zwischen den Steinen, deren Bild jetzt vor ihm hing, hatte Will die Zeichen in einen Winkel geschoben, wo sie sicher und verborgen liegen konnten, begraben von der Zeit. Aber sich zu erinnern, war eine Sache, es nachzuvollziehen, eine andere ...
Er dachte: Die einzige Möglichkeit ist, alles noch einmal zu durchleben. Ich muss wieder dorthin, noch einmal all das tun, was wir taten, als wir die Zeichen versteckten — und dann muss ich, anstatt dort innezuhalten, einen Weg finden, sie wieder hervorzuholen.
Allmählich geriet er in Erregung. Merriman kann auch dort sein, dachte er, aber ich werde es ausführen müssen.
Ich werde bei dir sein, aber machtlos,
sagte er. Er wird mir also nicht zeigen können, wann ich etwas zu sagen oder zu tun habe, was es auch sein mag. Vielleicht weiß er nicht einmal, wann es so weit ist. Nur ich kann den richtigen Augenblick finden für das Licht. Und wenn ich versage, gibt es von hier aus kein Weiter für uns ...
Seine Erregung schwand dahin angesichts des entsetzlichen, erbarmungslosen Gewichts der Verantwortung. Es gab nur einen einzigen Schlüssel, der die Zeichen vom Bann befreien würde, und nur er konnte ihn finden. Aber wo, wann, wie?
Wo, wann, wie?
Will erhob sich. Der Weg aus dem Bann konnte nur gefunden werden, indem man zu ihm zurückkehrte. Als Erstes musste er also das Aussprechen des Bannes wiederholen, die Zeit zurückstellen, sodass er noch einmal die Stunden durchleben konnte, vor über einem Jahr, als Merriman mit Will an seiner Seite ...
Was hatte Merriman getan? Es musste eine exakte Wiederholung sein.
Will legte die Taschenlampe ab, stellte sich vor das Bild und erinnerte sich. Er streckte eine Hand aus und legte sie auf den Rahmen. Dann stand er ganz still und betrachtete konzentriert eine Gruppe von Männern im Mittelfeld des Bildes: Männer, die an einem Seil zerrten, mit dessen Hilfe eine Steinplatte an einen für den Betrachter nicht sichtbaren Ort gezogen wurde. Will verbannte jeden anderen Gedanken aus seinem Kopf, alle anderen Anblicke oder Geräusche aus seinen Sinnen; er schaute und schaute.
Und ganz langsam begannen die Geräusche des ächzenden Seils, der rhythmischen Schreie und des Knirschens von Stein gegen Stein, hörbar zu werden, und er roch Staub und Schweiß und Dung — und die Gestalten in dem Bild begannen, sich zu bewegen. Und Wills Hand lag nicht mehr auf dem Holzrahmen, sondern auf der hölzernen Seitenwand eines mit Steinen beladenen Ochsenkarrens, und er betrat die Welt der Römer in Caerleon, ein Junge aus jener Zeit, an einem warmen Sommertag in einer kühlen Tunika aus weißem Leinen, der unter seinen in Sandalen steckenden Füßen die unebenen rechteckigen Pflastersteine spürte.
»Hau ruck ... hau ruck ...« Der Stein bewegte sich auf den
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