Lichtjagd
wenn man sich zufällig an der Grenze zwischen den beiden Ländern befindet, braucht man nur einen einfachen Schritt zu machen, und mir nichts, dir nichts ist man in Deutschland. Und je größer dein Land ist, desto länger sind die Grenzen und desto mehr Orte kann man mit nur einem Schritt erreichen. Fontana bezeichnete diese Grenzübergänge – Einzelmutationen, die einen Organismus zu einem neuen Phänotypus verschieben – als Durchgangsmutationen. Je größer das neutrale Netzwerk, desto mehr Durchgangsmutationen sind möglich. Je mehr Durchgangsmutationen, umso geringer ist das Risiko von genetischen Sackgassen … die in der realen Welt auf ein Aussterben der Spezies hinauslaufen.«
»Und was hat die Turing-Suppe damit zu tun?«, fragte Arkady.
»Nun, ich stoße hier an die Grenze meiner Kenntnisse der Algorithmischen Chemie, aber Fontana stellte sich neutrale Netzwerke als Suchräume und Mutationen als einen Suchalgorithmus vor, wie Suchalgorithmen, um Informationen in einer Datenbank zu finden. Je größer die Datenbank, desto mehr Daten sind zu durchsuchen und desto mehr Daten erhält man. Das ist der Teil der Gleichung, der auf der Seite des expandierenden neutralen Netzwerks steht. Aber es gibt auch einen begrenzenden Faktor: Wie effektiv ist der Suchalgorithmus bei der Durchsuchung der Datenbank? Je besser der Suchalgorithmus, desto schneller trennt er den Weizen relevanter Daten von der Spreu. Fontana hat also Mutationen, die sich innerhalb eines neutralen Netzwerks ansammeln, als einen Mechanismus betrachtet, mit dem Organismus den gesamten Raum des aktuellen Phänotypus nach möglichen Verbesserungen oder Reaktionen auf Umweltänderungen zu durchsuchen. Mir ist ein wenig unwohl bei dem
Gedanken, dass Organismen den Genotypus auf irgendeine sinnvolle Weise ›durchsuchen‹. Ich glaube einfach nicht, dass die Evolution auf diese Weise funktioniert. Andererseits aber verbringen Gentechniker viel Zeit damit, die Suchalgorithmen ihrer neutralen Netzwerke zu verbessern. Und wenn man Organismen so modifizieren könnte, dass sie ihre neutralen Netzwerke effizienter durchsuchen, könnte man wandelnde Tote in lebensfähige Populationen verwandeln … und genau das, nehme ich an, hat jemand hier auf Novalis versucht.«
Arkady ließ sich auf seinen eigenen Stuhl sinken. Die Reichweite dessen, was Arkasha beschrieben hatte, verschlug ihm fast die Sprache. »Mal ganz abgesehen von den entwicklungsbiologischen Problemen, die eine solche Idee …«
»Ich weiß, ich weiß.«
»… aber wie willst du auch nur annähernd beweisen, dass jemand so etwas auf Novalis gemacht hat?«
»Ich kann es nicht beweisen. Zumindest nicht in einem Zeitrahmen, der für diese Mission relevant wäre. Ich kann aber mit Sicherheit sagen, dass Bellas Virus einem Terraformingwerkzeug sehr viel ähnlicher sieht als einer Biowaffe.«
Arkady biss sich auf die Lippe.
»Was?«
»Na ja … Ich dachte gerade an das alte Sprichwort, dass ein Unkraut eine ganz tadellose Pflanze am falschen Ort ist. Ist eine Biowaffe nicht ein perfektes Terraformingwerkzeug, das am falschen Ort eingesetzt wird?«
»Du bist also mit Ahmed einer Meinung?«
»Nein! Ich will dich nur darauf aufmerksam machen, dass du auf diese Frage eine Antwort finden solltest, denn er wird sie bestimmt stellen.«
»Ich werde eine Antwort finden«, sagte Arkasha. »So oder so, ich werde eine Antwort finden.«
»Na gut, aber setze dich nicht zu sehr unter Druck, ja?«
»Ich verspreche dir, dass ich vernünftig sein werde. Und danke für … nun, dass du dich um mich gekümmert hast.«
»Jeder andere hätte das Gleiche getan.«
»So was sagst du immer wieder. Es wird dadurch nicht richtiger.«
Arkashas Augen funkelten. Zum zweiten Mal binnen weniger Minuten hatte Arkady das Gefühl, dass er immer noch Fieber hatte.
Er drückte Arkasha einen so zarten und züchtigen Kuss auf die Stirn, als seien sie zwei Mönche auf einer der russischen Ikonen, denen man angeblich die Gesichtszüge ihrer Abstammungslinie nachempfunden hatte.
Natürlich hatte er keinen Kuss beabsichtigt; er hatte nur seine Temperatur überprüft, so wie er es im Laufe seiner Krankheit unzählige Male getan hatte. Aber aus irgendeinem Grund war es nicht dabei geblieben.
Er stand da, eine Hand noch auf Arkashas Schulter, und fühlte sich wie eine Armee, die ihre Nachschublinien überforderte. Arkasha blieb völlig bewegungslos unter seiner Hand, seine Augen waren dunkel und weit aufgerissen, sein Gesicht
Weitere Kostenlose Bücher