Lichtjagd
Orbitalstation gab es keine Möglichkeit, eine effektive Quarantäne aufrechtzuerhalten, daher konnte er nur das Schlimmste vermuten.
Und wenn das Schlimmste geschehen war, hatte Korchow ihn nicht zur Erde geschickt, um einen Offensivschlag zu verüben. Es war vielmehr ein verzweifelter, auf den letzten Drücker unternommener Versuch, den Syndikaten etwas Zeit zu verschaffen und ihre plötzlich drastisch eingeschränkten Überlebenschancen zu verbessern.
Arkady war noch zu keinem Schluss gekommen, was er davon halten – und was er deswegen unternehmen – sollte, als ihn die beiden humorlosen jungen Männer, die ihn mit Ash aus Tel Aviv eingeflogen hatten, über die Grüne Grenze schleusten und dem grünäugigen Jungen namens Yusuf übergaben.
Da war ein Zimmer.
Darin stand ein Schreibtisch.
Auf dem Schreibtisch lag ein einziges leeres Blatt Papier.
Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann.
Der Mann sah freundlich, etwas gestresst, halbwegs intelligent und ganz unauffällig aus. Durchschnittlich groß, durchschnittliche Haar- und Hautfarbe, durchschnittlich gebaut bis hin zu den Speckrollen eines mittelalten Mannes, der einer sitzenden Tätigkeit nachgeht. Eine graue und farblose, zugeknöpfte Erscheinung, die Arkady bereits mit Bürokraten und Militärbeamten der unteren Ränge zu assoziieren gelernt hatte.
Ein Opportunist, vermutete Arkady. Ohne eigene Initiative, Originalität und Vorstellungskraft. Gut darin, den Papierkram termingerecht abzuarbeiten. Die Art von Mann, bei dem man sich fragt, wie Menschen je auf den Gedanken kommen konnten, sich aus dem Gravitationsabgrund ihres Planeten emporzuschwingen.
»Hallo, Arkady«, sagte der Mann in flüssigem, akzentfreiem Englisch statt im UN-Standardspanisch, das die Lingua franca der Erde war. Das war die erste Überraschung.
Arkady hatte zu Boden geschaut, aber jetzt blickte er ruckartig auf und sah dem Mann unversehens in die Augen. Und das war die zweite Überraschung.
Er hatte braune Augen. Nicht das flüssige, samtige Schwarz eines Rostow-Konstrukts, schon gar nicht das tiefe Schwarz von Gavis Augen. Nur die normale braune Farbe, die gewöhnlich mit der mediterranen Haut- und Haarfarbe einherging. Aber man konnte nicht in diese Augen sehen, ohne gleich zu wissen, dass sie zu einem denkenden Menschen gehörten, der in der Welt genug getan und gesehen hatte und niemandem mehr etwas beweisen musste.
»Sie sind Walid Safik«, sagte Arkady.
»So sagt man. Setzen Sie sich, Arkady.«
Arkady nahm Platz und versuchte den Mann vor ihm mit der Aura des Gefährlichen und Geheimnisvollen in Einklang zu bringen, die Absalom umgab.
»Hatten Sie eine nette Unterhaltung mit Gavi?«, fragte Safik. »Ach, machen Sie nicht so ein Gesicht. Ich will Sie
nicht auf Informationen abklopfen. Zumindest jetzt noch nicht. Ich bin nur neugierig. Gavi hat meine Lieblingscousine geheiratet, wussten Sie das? Ich habe auf ihrer Hochzeit getanzt. Nun ja, im übertragenen Sinne. Ich glaube nicht, dass ich richtig getanzt habe. Ich war schon ein ziemlich schlechter Tänzer, bevor ich fett geworden bin. Sagt meine Frau jedenfalls, und wenn Sie unfreundliche Dinge über mich sagt, sind sie gewöhnlich wahr. Sagen Sie mir, welchen Eindruck hat Gavi auf Sie gemacht?«
»In welcher Hinsicht?«
»Persönlich. Mochten Sie ihn? Dumme Frage, natürlich mochten Sie ihn. Jeder mag ihn. Jedenfalls war es früher mal so. Aber machte er unter den gegebenen Einschränkungen einen zufriedenen Eindruck auf Sie?«
»Es ging ihm gut, würde ich sagen.« Arkady erinnerte sich an das fehlende Bein und schauderte unwillkürlich. Wie redeten die Menschen hier über solche Dinge? In den Straßen Jerusalems begegneten einem schrecklich viele Menschen mit fehlenden oder entstellten Körperteilen. Konnte man schreckliche Dinge dieser Art leichter ertragen und leichter darüber reden, wenn sie so häufig waren? Oder machte es sie noch erschreckender? »Ich bezweifle, dass ich ihn gut genug kenne, um zu beurteilen, ob er zufrieden ist oder nicht.«
»Verstehe ich. Aber fragen schadet nichts, oder?«
Safik stand auf, ging zur Tür und beriet sich kurz mit Yusuf. Als er zurückkam, hatte er eine Packung Zigaretten in der Hand.
»Was dagegen, wenn ich rauche?«, fragte er. »Ich würde gern das Fenster öffnen, aber irgendein Idiot hat es im letzten Jahr gestrichen, und jetzt lässt es sich nicht mehr öffnen.« Er zündete sich eine Zigarette an und saugte daran mit der Intensität eines Süchtigen.
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