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Lichtjagd

Lichtjagd

Titel: Lichtjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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der Konsens. Besser, man feierte das, was gut gelaufen war (zumeist auf Unteroffiziersebene und darunter), als dass man lang über das klagte, was schiefgegangen war (wobei die meisten Verantwortlichen noch lebten und Sterne und gestreifte Hosen trugen). Und auch wenn Li meinte, dass die Moral der Truppe auf diese Weise zu einem hohen Preis erkauft wurde, erfuhr sie bald, dass sie sich keine Freunde machte, wenn sie es offen aussprach.
    Als eine der wenigen Gilead-Veteranen in der beneidenswerten Position, zugleich ein Held und noch am Leben zu sein, profitierte Li natürlich besonders vom PR-Tornado, der
die blutige Aktion umwirbelte. Sie war sich nicht einmal ganz sicher, ob man von PR reden konnte. Alles, was sie den UNSRFRISIERTEN Spinvideoberichten entgegensetzen konnte, war ein bohrendes Déjà-vu-Gefühl und die Überzeugung, dass sie im Kopf einmal eine andere Version dessen, was der UNSR als die Wirklichkeit ausgab, mit sich herumgetragen hatte.
    Es war unmöglich, einem Zivilisten zu erklären, was einem die Sprungamnesie zufügte. Die ausgezackten Löcher in der eigenen Identität und Vergangenheit, die sie hinterließ. Die Reflexe, auch gewaltsamen Reflexe, die von nirgendwoher kamen, dann in einen unterirdischen Hohlraum zurückgesaugt wurden, zu dem man nicht mehr zurückfand. Das widerliche Schwindelgefühl, das ein zweiter Satz von Erinnerungen mit sich brachte, die den echten Erinnerungen aufgepropft wurden. Das Gefühl im Bauch, dass alles falsch war, gründlich falsch, woran sich das Gehirn zu erinnern glaubte und was von den Geschichtsbüchern, den Nachrichtensendungen, Politikern und Nachbarn behauptet wurde.
    All das bot vielleicht eine Erklärung, wie Turner sie in sein Spinnennetz gelockt hatte. Er hatte etwas vor ihrer Nase baumeln lassen, das sie nicht zurückweisen konnte: einen Beweis. Einen Beweis dafür, dass sie diese schrecklichen Dinge auf Gilead nicht getan hatte. Einen Beweis dafür, dass sie nicht imstande war, solche Dinge zu tun.
    Sie begriff jetzt, dass sie einer Illusion nachgejagt war. Sie würde jene Catherine Li, die vor einem halben Leben in Gileads Gravitationsabgrund gestürzt war, nie kennenlernen. Selbst wenn Andrej Korchow mit einem Heiligenschein vom Himmel herabkäme und ihr erklärte, dass sie diese Gefangenen nicht erschossen hatte, würde er ihr trotzdem nicht sagen können, was sie vielleicht sonst getan hatte … oder wozu sie imstande gewesen war.
    Sie würde niemals ihre Vergangenheit kennen, nicht einmal auf jene illusorische, selbstgerechte, halb fiktive Art, wie unveränderte Menschen ihre früheren Ichs kannten. Alles,
was sie kennen konnte – was sie je kennen würde –, war die Person, die sie heute war.
    Und genau in dem Moment, als sich für sie allmählich eine Möglichkeit abzeichnete, damit zu leben, erschien es immer unwahrscheinlicher, dass sie überhaupt eine Chance zum Weiterleben bekommen würde.
     
    Natürlich war sie selber daran schuld.
    Sie hatte gewusst, dass ein Fluchtversuch eine dumme Idee war. Aber was hätte sie tun sollen? Nichts?
    Und als ihre Folterer schließlich einen Fehler machten, war sie bereit. Bewaffnet mit einem Skalpell, das sie mit der Hand an sich gebracht hatte, deren Finger noch mehr oder weniger funktionierten.
    Dem ersten Wachmann brach das Genick mit einem Knirschen, das ihr den Magen umdrehte. Sie ließ ihn fallen und wandte sich dem nächsten Ziel zu, noch immer die Haube über dem Kopf, sodass sie sich auf ihr Gehör und ihr Gefühl verlassen musste. Ihre Hände waren weitgehend nutzlos, deshalb benutzte sie ihre Beine, ihre Füße, ihr Training, ihren Hass.
    Einen Sekundenbruchteil bevor der zweite Wachmann auf dem Boden aufschlug, hatte sie sich die Haube vom Kopf gerissen. Der Raum war Gott sei Dank abgedunkelt, deshalb fand sie sich schnell zurecht. Aber trotzdem machte sie den Fehler zu glauben, dass sie allein war.
    Die Tatsache, dass die andere Person im Raum fast bewegungslos dastand, erklärte ihre Verwirrung nur teilweise. Das eigentliche Problem war, dass sich die Frau von Kopf bis Fuß in schmutzig grünen Stoff gehüllt hatte.
    Aber war es wirklich eine Frau? War sie überhaupt eine Polykonfessionelle? Oder machte sie sich bloß den Umstand zunutze, dass eine solche Verkleidung heutzutage im Gedränge auf den Straßen Jerusalems überhaupt nicht mehr auffiel?
    Li packte die verschleierte Gestalt. Und dann tat sie etwas, was sie niemals, in einer Millionen Jahren nicht getan hätte,
wenn sie auch

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