Lichtjagd
nur im entferntesten imstande gewesen wäre, geradeaus zu denken.
Sie riss das grüne Tuch herunter.
»Das war dumm«, sagte Ashwarya Sofaer.
Li stand nur da, schwankte leicht, und die Erinnerung traf sie wie eine Streitaxt.
»Sie waren das«, flüsterte sie. »Ich habe mich mit Ihnen getroffen, nicht mit Turner.«
Ash zuckte mit den Achseln. »Ich war ein bisschen überrascht, wie gut es funktioniert hat. Ihr Hirn ist ziemlich durcheinander, was?«
»Dann war das Ganze ein Täuschungsmanöver? Sie wollten nie mit dem UNSR sprechen?«
»Oh, ich habe schon mit dem UNSR gesprochen.« Ash lächelte ihr schönes, maskenhaftes Lächeln. In einem klaren Winkel ihres Gehirns kam Li der Gedanke, dass Ash nicht so erschrocken war, wie sie sein sollte. »Nur habe ich auch noch mit anderen Leuten gesprochen.«
»Turner …«
»Ist das wirklich wichtig? Sie kommen hier ohnehin nicht mehr weg, Li. Vorher hatten Sie noch eine Chance. Aber jetzt …« Sie zuckte die Achseln.
»Oh, ich glaube, wir werden uns gemeinsam auf den Weg machen«, sagte Li …
… und als sie wieder zu sich kam, lag sie auf dem Boden, ihr Kopf pochte von den Nachwirkungen irgendeines Nervengifts, und Turner stand in voller Lebensgröße vor ihr und schaute auf sie herunter.
»Na gut«, sagte er und schüttelte den Kopf wie ein Landei, das zum ersten Mal die hellen Lichter der Großstadt sah. »Sie scheinen es auf die harte Tour zu mögen.«
Ash stand einen Schritt hinter Turner. Sie hatte ihren Schleier wieder umgelegt. »Warum nehmen Sie dieses lächerliche Ding nicht vom Kopf?«, fragte Li.
Ashs Hand löste sich aus den Schatten, hob sich, zögerte. Mit einem leichten Zucken ihrer langen Finger schob sie den Schleier zur Seite. Aber statt ihn ganz abzulegen, rückte sie ihn nur so um ihren Kopf und ihre Schultern zurecht, dass sie ihr Gesicht zeigte.
In diesem Moment begriff Li, worum es ging. Der Schleier war keine Verkleidung. Der Schleier war Ashs wahres Gesicht, das Gesicht einer Polykonfessionellen, die sich den Gottesmännern und der Gewalt verschrieben hatte.
Dies war die Wirklichkeit, die Li flüchtig hinter der schönen, aber unpersönlichen Maske erblickt hatte, die Ash der Welt präsentierte. Die weißen Anzüge, das perfekte Make-up und der eigennützige Karrierismus waren nichts weiter als eine raffinierte Tarnung zu ihrem Schutz.
Li hatte die echte Ash bisher erst einmal gesehen: in den Dehnungsstreifen, die darauf hindeuteten, dass sie eine natürliche Schwangerschaft und Geburt durchgemacht hatte, was nur eine verschwindend geringe Zahl der Ringbewohner von sich behaupten konnten. Aber sie hatte es als eine bedeutungslose Banalität abgetan. Wie hatte Li so blind sein können? Und welch besseren Beweis gab es dafür, dass sie selbst kein Mensch war, nie einer gewesen war und Menschen nie verstehen würde, wie lang sie auch unter ihnen lebte?
»Wie lang haben sie für die Polykonfessionellen gearbeitet? «, fragte sie Ash. »Und wann haben Sie und Turner beschlossen, dass sie das Novalis-Virus in die Hände bekommen wollen?«
Aber statt einer Antwort hatte Ash nur eine Frage für sie: »Die linke oder die rechte Hand?«
C ohen sah sehr mitgenommen aus, als er schließlich auf Gavis Klopfen antwortete. Zerknittert und unrasiert, dunkle Ringe unter den Augen. Und um die linke Hand einen tadellosen weißen Verband.
Gavi trat in das luxuriöse Wohnzimmer von Cohens Hotelsuite. »Was ist passiert?«, fragte er und zeigte auf den Verband.
»Ich habe mit Rolands Hand eine Scheibe durchschlagen«, sagte Cohen mit einer Stimme, die sich weitere Nachfragen unüberhörbar verbat. »Was willst du, Gavi?«
Gavi hob die Augenbrauen. »Komm’ ich zu einem ungünstigen Zeitpunkt? Soll ich später noch mal kommen?«
Cohen ließ sich auf einen Stuhl fallen und strich sich mit den Händen übers Gesicht. »Nein. Entschuldigung. Im Moment … läuft es halt nicht so gut.«
Gavi schaute sich um. Keine Spur von Li. Wie sollte er die unstellbare Frage stellen? Nun, Frechheit war immer eine Option. »Ist Li da?«
»Nein. Du kannst auch mir den neuen Quellcode zeigen, den du zusammengebraut hast.«
Gavi setzte sich und unterdrückte das Schuldgefühl, das in ihm rumorte, weil er Cohen anlügen musste. Es war keine Lüge. Es war Selbstschutz. Nein, mehr als Selbstschutz: Er beschützte zwei Personen, die verzweifelt Schutz bedurften.
Sie redeten einige Minuten über das Thema, gingen flüchtig Gavis Programmierideen
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