Lichtjagd
verschmiert hatte.
»Du bist überrascht.« Didi klang wie ein Mann, der einen entzündeten Zahn mit der Zunge betastete und sich fragte, wie lang er noch warten konnte, bis er einen Zahnarzt aufsuchen musste.
Gavi blickte zu ihm auf und bemühte sich, ihm fest und gerade in die Augen zu sehen. »Hast du etwas anderes erwartet? «
»Nein, keinesfalls. Ich wusste nur nicht, ob dich die Neuigkeiten oder die Tatsache überraschen würde, dass ich davon weiß.«
Irgendwo draußen in der strahlenden Sonne hinter den Fenstern schrie ein Kind, und beide Männer wandten sich instinktiv zum Fenster. Die Scheibe, bemerkte Gavi, war mit gelbem Khamsin -Staub überkrustet. Er überlegte nebenbei, dass man wahrscheinlich eine recht vollständige Karte der geheimen Schlupfwinkel in Tel Aviv zeichnen konnte, indem man einfach nach ungeputzten Fenstern und ungekehrten Eingangsstufen Ausschau hielt. Er sagte sich, dass ihn all das krank machte, dass er die Nase gestrichen voll hatte von verschmierten Fenstern und schmuddeligen Obergeschosswohnungen mit Flohmarktmobiliar; dass die vielen Male, die er in ähnlichen Zimmern wie diesem gesessen und ähnlichen Gedanken nachgehangen war, zum heutigen Tag geführt hatten; und dass es heute endlich und endgültig vorbei sein würde.
Aber er wusste es besser.
Oder was eher zutraf: Didi wusste es besser.
»Und warum zeigst du mir dieses Foto jetzt erst? Die Akte ist ziemlich dick. Du hast dieses As vermutlich schon seit längerer Zeit im Ärmel.«
»Nein, eigentlich nicht. Wir hatten die Akte, ja, aber ich habe erst vor einer Woche herausbekommen, dass er nicht Safiks leibliches Kind ist. Und ich sage es dir jetzt, damit du Zeit hast, um mit kühlem Kopf darüber nachzudenken. Hier. Während ich dabei bin und du mit mir reden kannst. Ich
habe immer Vertrauen in dich, wenn du das zweite Mal über etwas nachdenkst, oder auch das dritte oder vierte Mal. Nur diese ersten leidenschaftlichen Impulse machen mir Angst.«
»Joseph könnte mich auch erkennen, Didi. Hast du daran schon gedacht?«
»Ich bezweifle, dass er dich erkennen würde. Wenn er sich überhaupt an dich erinnert, dann an einen jungen Mann, der nicht viel älter war als er jetzt. Und er sieht dir nicht sehr ähnlich. Eigentlich nur ein bisschen um den Mund herum. Anfangs ist es mir selbst nicht aufgefallen.«
Gavi betrachtete das Foto noch einmal. Er hatte sich davon ablenken lassen, und er erkannte jetzt seinen Fehler, weil es äußerst unwahrscheinlich war, dass Didi ihm das Foto überlassen oder es ihm je wieder erlauben würde, es sich anzusehen. Seine Seele spielte ihm einen seltsamen Streich, füllte seine Nase mit dem erinnerten Duft von Josephs Babyhaut, stachelte ihn zu einer animalisch-instinktiven Gewissheit auf, dass der junge Fremde auf dem Foto sein Kind war.
Wie die Ziegen, dachte er unsinnigerweise, die ihre Jungen im Dunkeln allein am Geruch erkennen. Aber er hatte sich nie vorstellen können, dass sie sich, noch Jahre oder Jahrzehnte nachdem man ihre Jungen ins Schlachthaus gebracht hatte, an den Geruch erinnern würden. Welchen Sinn hatte es, sich so von seinen Sinnen quälen zu lassen, wenn es zu spät war, um noch etwas zu tun oder jemanden zu retten?
»Darf ich diese Akte lesen?«, fragte er.
»Ach, Gavi.«
»Spar dir das. Warum sollte ich sie nicht lesen?«
»Warum solltest du?« Didi hielt ein dünnes Bündel Papiere hoch und schüttelte es, bis die Seiten wie tote Blätter raschelten. »Willst du wissen, was hier drin steht, Gavi? Hier wird das Leben des Sohnes eines anderen Mannes geschildert. Walid Safiks Sohn. Alles in der Akte besagt, dass Safik den Jungen seit dem Tag, als er ihn adoptierte, verwöhnt und vergöttert und an ihm einen Narren gefressen hat. Alles hier
drin besagt, dass Yusuf Safik die Liebe seines Vaters erwidert. Mein Gott, Gavi, wir haben abgehörte Telefongespräche, die zeigen, dass der Junge jeden Abend zu Hause anruft. Ich wäre schon froh, wenn meine Töchter mich einmal im Monat anrufen würden! Der Junge ist jetzt ein Palästinenser, Gavi. So wie Leila es gewollt hat. Und sein Vater ist Walid Safik. Du bist nur ein Fremder, der ihm zufällig ähnlich sieht.«
»Ich weiß«, flüsterte Gavi.
Und er wusste es wirklich.
Aber das machte es ihm nicht einfacher, das Foto loszulassen.
C ohen materialisierte in einem Flimmern von Sicherheitsprotokollen. Vielleicht war das Flimmern auch in der Luft, dachte Arkady, und nicht in Cohen. Er hatte sich noch immer
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