Lichtjagd
einem größeren Spiel im Sinn entworfen worden.
Dem Leben, wenn man es so nennen wollte.
Und jeder Ameisen-Algorithmus und jedes Kohonen-Netzwerk in seinen weit verstreuten Systemen sagte ihm, dass dieser Moment – hier unter dem hohen Himmel der Erde, in einem Straßencafé am trügerischen Rande der Internationalen Zone, wo er auf einen Mann wartete, der sich laut Cohens liebster, wenn auch hoffnungsloser ungenauer Armbanduhr um inzwischen fast zweiundvierzig Minuten verspätet hatte – einer der gefährlichen Züge des Lebens war.
Sie hatten gewartet, während die Dämmerung den Felsendom glänzen ließ und ihre eiszeitkalten Finger in die schiefen Plätze und schmalen Gassen der Altstadt ausstreckte. Um die Zeit, als die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen die Staubkörner über ihren Tisch tanzen ließen, kehrte Hasidim, der immer früher aufstand, von der Klagemauer zurück, und der automatische Muezzin ließ den Gebetsruf aus den Lautsprechern
des Tempelberges erschallen und erinnerte die Gläubigen daran, dass es keinen anderen Gott als den Gott gab, dass Gott und Gebete aber süßer waren als der Schlaf.
Eine anschwellende Flut morgendlicher Berufspendler überschwemmte die Straßen. Von den Schaufenstern wurden rasselnd die Metalljalousien hochgezogen. Die Ladenbesitzer riefen einander im archaischen, mit Arabisch durchsetzten Hebräisch der Jerusalemer Morgengrüße zu.
»Es ist so ruhig«, sagte Li.
Cohen brauchte nicht zu fragen, was sie meinte. Für posthumane Ohren ging die morgendliche Kakophonie in der völligen Stille des Stromraums unter, der an anderen Orten das Treiben auf einer Geschäftsstraße mit einem unaufhörlichen Hintergrundplappern begleitet hätte.
Cohen vollführte eine schwungvolle Geste, die die ganze Fülle des verrückten, klaustrophobischen Treibens in der Altstadt andeutete. »Sieh sie dir an, die große Gemeinschaft der Unverkabelten, präsentiert von einer generationenübergreifenden Koalition aus Amerikanern in Geländewagen, eigennützigen Orbitalunternehmen und einem UN-Generalrat, dessen Umweltparole lautet: ›Überall, nur nicht vor meiner Haustür!‹«
Das technologische Embargo war im späten Einundzwanzigsten Jahrhundert verhängt werden, als die Erde sich ökologisch im freien Fall befand und die Ratten gerade begriffen, dass es kein anderes Schiff gab, auf das sie springen konnten. Zu dieser Zeit waren von der Bevölkerung des Planeten nur noch die Freigestellten Völker — Ureinwohner und Anhänger großer Weltreligionen – und die Schurkenstaaten übrig. Die Ureinwohner hatten die Probleme nicht verursacht, und deshalb hatten sie – eine brillante Demonstration dessen, was der Router/Decomposer als menschliche Unlogik bezeichnete – bei ihrer Lösung kein Mitspracherecht. Die Fundamentalisten erhofften sich vom Frieden einfach, dass sie sich
gegenseitig umbringen konnten, ohne dass ihnen verirrte Friedenssoldaten in die Quere kamen. Und die Schurkenstaaten (eine höfliche Umschreibung, wenn man nicht Amerika sagen wollte) hatten sich so gründlich von der UN losgesagt, dass niemand auf die Idee kam, sie zur Teilnahme einzuladen.
Amerika leistete natürlich Widerstand. Aber Volkswirtschaften können genauso wenig wie Menschen unbegrenzte Zeit in Isolation überleben. Geschäfte mit Amerika wurden bald zu geschäftlichen und politischen Reinfällen. Der Moloch Amerika fuhr sich fest, verkrüppelt vom Klimawandel, wirtschaftlicher Isolation und einer massiven, über mehrere Generationen andauernden Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte, die durch die Einwanderungspolitik des Rings noch beschleunigt wurde.
In der Zwischenzeit wurde das technologische Gefälle zwischen der Erde und dem Ring mit jedem neuen Fortschritt in KI-Design oder Mikrogravitationsfertigung noch größer. Von jedem überbevölkerten und verarmten Winkel des Globus hoben Generationenraumschiffe ab. Und das Embargo, angeblich nur ein einfaches Moratorium für den Verkauf von Weltraumtechnik auf die Erde, zeigte die beabsichtigte Wirkung: die Verringerung der irdischen Biomasse auf ein Niveau, das der verkrüppelte Planet bewältigen konnte.
Es funktionierte. Vorstädte wurden von wilder Vegetation überwuchert. Bäume und andere Pflanzen – allerdings nur selbstbestäubende Arten – traten an die Stelle von Beton. Frösche gab es keine mehr. Auch keine Schmetterlinge und genetisch nicht modifizierte Honigbienen. Die meisten großen Säugetiere und die singende Zugvögel,
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