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Lichtjagd

Lichtjagd

Titel: Lichtjagd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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als er sich die Bettler näher ansah, bemerkte er, dass viele verkrüppelt, entstellt oder offensichtlich verrückt waren.
    »Das hier ist eine Euthanasiestation «, sagte er erstaunt.
    »Man versucht sie zu verjagen«, sagte Osnat mit einem Schulterzucken, »aber die Zahl der Polizisten ist begrenzt.«
»Aber es muss doch eine Art von Renormierungs … äh, Rehabilitationsprogramm geben.«
    Sie warf ihm aus den Augenwinkeln einen ungläubigen Blick zu. »Wenn in den Syndikaten jemand herausgefunden hat, wie man Leute von ihrer Armut rehabilitieren kann, sollte er sich um den dämlichen Friedensnobelpreis bewerben.«
    Arkady starrte die verschrumpelten Gestalten an, versuchte die Menschen in den Lumpen einzuschätzen, aber niemand wollte ihm in die Augen sehen. Und sie waren nicht die Einzigen.
    Die Blicke in der Internationalen Zone hatten eine besondere Qualität, etwas Nicht-Sehendes, Nicht-Wahrnehmendes. Die Legionäre trugen ihre verspiegelten Sonnenbrillen wie Körperpanzer und taten, wenn jemand ihnen eine Frage zu stellen wagte, ihr Äußerstes, um den Eindruck zu erwecken, dass sie keine andere Sprache außer Französisch sprachen. Die Chassidim hasteten unter ihren tristen Hüten vorbei und beschirmten beflissen ihre Augen, um jeden Kontakt mit der gottlosen Gegenwart zu vermeiden. Christen aus dem NorAm-Sektor schritten beschwerlich den Kreuzweg ab, die Blicke an ihre Spinrekorder geheftet, und taten, was sie konnten, um eine lebendige Stadt in einen Themenpark zu verwandeln. Muslime starrten vor sich in die Leere, als könnten sie durch eine sufistische Willensanstrengung die Horden der Ungläubigen von ihren heiligen Stätten verschwinden lassen. Selbst die Verrückten – und davon gab es offensichtlich eine ganze Menge – schrien eher durch einen hindurch, als dass sie einen anschrien. Die Einzigen, die andere wirklich anschauten, waren die Polykonfessionellen – und die Art, wie sie einen anschauten, machte einem klar, dass einem Schlimmeres passieren konnte, als ignoriert zu werden.
    »Warum gibt es so viele Polykonfessionelle?«, fragte Arkady.
    »Mach die Augen auf. Du brauchst dich nur umzuschauen, dann weißt du, warum.«

    Er schaute sich um. Er sah gelangweilte Legionäre, mürrische Einheimische, staubige Mauern, die im Ozondunst eines warmen Herbstnachmittags zerkrümelten, sechstausend Jahre Geschichte, umschlossen von Sandsäcken und Stahlbeton. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
    »Das liegt daran, dass du deine Nase nicht in die richtige Richtung hältst.«
    Er sah sie verwirrt an, dann bemerkte er ihren aufgerichteten Daumen, blickte zum Himmel auf und sah es.
    Der Ring erstreckte sich 35 786 Kilometer über ihren Köpfen entlang der Neigung des Äquatorialgürtels und war heute schwach sichtbar dank einer dieser absonderlichen Kontrapositionen von Stern und Satellit, die Physiklehrer im UN- und Syndikatsraum ihre geplagten Studenten berechnen ließen. Der Ring war natürlich kein richtiger Ring, sondern einfach der Bereich, der alle stabilen geostationären Umlaufbahnen der Erde beinhaltete. Aber er war derart mit Wohn-und Produktionshabitaten, Kommunikationssatelliten, Sonnenkollektoren und Offshore-Steueroasen ausgefüllt, dass er inzwischen so deutlich sichtbar und abgegrenzt war wie die Ringe des Saturn.
    Die Anforderungen an Verkehrssteuerung und dynamische Stabilisierung, die der Ring stellte, waren derart komplex, dass sie in den letzten drei Jahrhunderten die Hauptmotivation bei der Evolution der Emergenten KIs gewesen war. Der Ring war außerdem – aufgrund des schieren Volumens von reflektierendem Metall, das dort oben kreiste – eine von tausenden, komplex wechselwirkenden Ursachen für die künstliche Eiszeit. Eine etwas verringerte Sonnenbestrahlung hier; eine etwas verstärkte Albedo dort; eine leichte Verschiebung der miteinander verbundenen Wasserkreisläufe des Ozeans und der Atmosphäre. Als Terraformer, der er war, wusste Arkady die Raffinesse des Systems zu schätzen: Es konnte das Chaos durch das Flattern eines Schmetterlingsflügels statt durch den Schlag eines Vorschlaghammers steuern. Und natürlich
hatten die Terraformer des Rings, angetrieben von der totalen Katastrophe, die man ihnen hinterlassen hatte, etwas vollbracht, was die Stationsplaner der dünn besiedelten Syndikatsplaneten niemals hatten in Erwägung ziehen müssen: Sie hatten einen Orbitalring geschaffen, der so perfekt in das Biom des Planeten unter ihm integriert war, dass man sich Ring und

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