Lichtjagd
dass er sich alles nur einbildet. Natürlich musste sich Rumi umbringen, bevor er rehabilitiert werden konnte. Aber wir wollen uns nur an den angenehmen Teil der Geschichte erinnern: ›Ich bin das Echo deines Echos, der Schatten des Schattens deines Schattens‹ «, zitierte Arkasha, wobei er Rumis berühmte Zeilen so verdrehte, dass eine beunruhigende neue Bedeutung zum Vorschein kam. » ›Und sehen wir, wie’s ist, Bruder, ein Mann braucht einen Schatten.‹ «
Die Worte der Dichters hingen zwischen ihnen in der Luft, eine geisterhafte Erinnerung an die unerwiderte und letztlich tödliche Leidenschaft des großen Mannes.
»Es ist ein Liebesgedicht«, protestierte Arkady schwach, »kein politisches Traktat.«
»Gibt es da einen Unterschied?«
Arkady fühlte sich erhitzt und unruhig. Als er aufstand, protestierte sein Rücken gegen das lange, verrenkte Sitzen auf dem harten Laborstuhl; aber in der plötzlich bedrückenden Enge des Labors gab es keinen Raum, um auszuweichen, deshalb setzte er sich wieder.
»Wenn du über Liebe reden willst«, sagte Arkasha, »reden wir über die Sechs-Prozent-Regel. Oder weißt du etwa nicht, was das ist?«
Natürlich kannte Arkady die Sechs-Prozent-Regel. Jeder kannte sie. Die Sechs-Prozent-Regel verfolgte die Gendesigner der Syndikate seit dem Moment, als der erste Geburtsjahrgang die Geschlechtsreife entwickelt hatte. Nach den jahrtausendelangen Debatten, Streitereien und Verdammungen stellte sich heraus, dass man Menschen soziogenetisch entweder zu Heterosexuellen oder zu Homosexuellen machen konnte. Es war ein Kinderspiel. Jeder Idiot konnte es bewerkstelligen. Das Problem war, dass weder die brillantesten Gentechniker noch die repressivsten Sozialsysteme alle Menschen auf eine sexuelle Orientierung festlegen konnten. Ganz gleich, wie sorgfältig oder wie skrupellos man vorging, sechs Prozent der Bevölkerung lief in der falschen Richtung aus den Startblöcken. Und der Prozentsatz war derselbe, ganz gleich, ob man die gottgegebene Heterosexualität oder eine laborgefertige Homosexualität durchsetzen wollte.
»Nun, was wäre, wenn es sich mit der Sechs-Prozent-Regel genauso verhält wie mit deinen Ameisen?«, fuhr Arkasha fort. »Wie hast du das in deinem umstrittenen Artikel ausgedrückt? Das folgende Verhalten ist nur adaptiv, solang Russels Grundprämisse für induktive Schlüsse zutrifft: solange zukünftige Zukünfte den vergangenen Zukünften ähneln. Aber Abweichungen stellen für einen Schwarm ein Reservoir an alternativen Lösungen dar: So sichert er sich ab für den Fall, dass zukünftige Zukünfte gegen die Regeln verstoßen, die man auf früheren Zukünften gelernt hat.«
»Gut«, gab Arkady zu. »Kann sein, dass ich es so gesagt habe.«
»Dann verallgemeinere es doch mal. Was wäre, wenn es bei allen sozialen Tiere, Menschen ebenso wie Ameisen, einen abweichlerischen Instinkt gäbe? Was wäre, wenn Abweichungen – Devianz, Abnormität, Protest, wie immer du es nennen willst, wenn sich eine Minderheit in einer Gesellschaft weigert, mit dem Strom zu schwimmen – tatsächlich vom Bemühen der Spezies zeugt, eine ausreichende Diversität, geistig wie physisch, aufrechtzuerhalten, um unerwartete Hindernisse zu bewältigen? Ist dir nie der Gedanken gekommen, dass wir uns möglicherweise auf einem Anpassungsgipfel normalisieren, von dem wir nie wieder herunterkommen werden, wenn unsere zukünftigen Zukünfte von unseren vergangenen Zukünften zu sehr abweichen sollten?«
»Erst einmal«, sagte Arkady nach einem Moment fassungslosen Schweigens, »hat mein Artikel dies nicht einmal annähernd behauptet. Und zweitens, wie kannst du politische Dissidenten, die, ja, ich geb’s zu, eine Funktion haben könnten, mit … nun, mit biologischen Abweichungen vergleichen? «
Arkasha sprang von dem Labortisch herunter und rückte einige ohnehin schon peinlich ordentlich arrangierte Papiere zurecht. »Ich muss mich wieder an die Arbeit machen, Arkady. War nett, mit dir zu plaudern. Das sollten wir nächste Woche wiederholen.«
»Arkasha!«
»Was?«
»Nichts. Ich dachte nur …« Er verhaspelte sich, brachte es nicht über sich, das Unsagbare auszusprechen. »Ich will …«
Arkasha seufzte. »Was willst du von mir, Arkady?«
»Ich will … Ich mag dich einfach, verdammt noch mal! Wir sollten Freunde sein, aber immer wenn wir kurz davor stehen, machst du … Um Himmels willen, kannst du nicht mal deine dämlichen Notizen weglegen und dich setzen? «
Arkasha setzte
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