Lichtjagd
ein, als mich zu veralbern?«
»Ich will dich nicht veralbern! Wirklich nicht. Hast du’s herausgefunden?«
»Nein. Werde ich aber noch.« Er zeigte auf die Tür, und seine Stimme fiel zu einem Flüstern ab. »Die Antwort wartet draußen vor der Luftschleuse. Alle Antworten. Wir müssen uns nur einen neuen Blick angewöhnen, wenn wir Novalis betrachten.«
»Ich weiß!«, rief Arkady. »Genauso empfinde ich es auch! Gerade heute Morgen dachte ich, dass Novalis eine Art zweite Chance ist. Und nicht bloß für die Syndikate. Für die Geowissenschaften im Allgemeinen. Immer, wenn wir uns Daten von der Erde vor der Evakuierung ansehen, haben wir uns gewünscht, dass wir in diese Zeit zurückkehren könnten, mit dem, was wir jetzt wissen, mit den Werkzeugen, die uns heute zur Verfügung stehen … Hier wartet Arbeit für ein ganzes Leben auf uns. Mehr als ein Leben.«
Arkasha goss sich noch ein Glas ein, trank einen kräftigen Schluck und schenkte auch Arkady nach. »Und, willst du diese Arbeit in Angriff nehmen?«, fragte er.
»Wie meinst du das?«
»So wie ich es gesagt habe.«
»Du meinst, ob ich hierbleiben will? Dauerhaft?«
»Irgendeiner muss es ja tun.«
»Aber willst du nicht nach Rostow heimkehren?«
Arkasha zuckte die Achseln.
»Es ist unsere Heimat. Bedeutet dir das nichts?«
Noch ein Achselzucken.
»Aber … warst du dort nicht glücklich?«
»Nein«, sagte Arkasha unumwunden.
»Wieso nicht?«
»Ist dir nie in den Sinn gekommen, Arkady, dass wir in den Syndikaten vielleicht ein wenig zu konformistisch geworden sind? Natürlich verwenden wir große Mühe darauf, eine ausreichende genetische Spannbreite herzustellen. Aber was ist mit der Spannbreite hier?« Er tippte sich an die Stirn. »Oder
hier.« Er tippte sich an die Brust, nicht an der anatomisch richtigen Stelle, aber nah genug, dass beide wussten, auf welches Organ er anspielte.
»Ich glaube nicht …«
»Schau dich doch mal an. In welches Elend du dich mit einer abweichenden Meinung in einem deiner Artikel gestürzt hast.«
»So krass würde ich es nicht formulieren.«
»Nein? Haben dir die Reaktionen nicht so zugesetzt, dass du heute nicht mehr in diese Richtung argumentierst?«
»Nein! Ich habe nur … einen kleinen Rückzieher gemacht.«
Arkasha zuckte die Achseln und wollte sich abwenden.
»Ich will darüber reden«, protestierte Arkady. »Ich bin nur nicht zwangsläufig deiner Meinung.«
»Im Ernst?«
»Im Ernst.«
Arkasha schwenkte das Getränk in seinem Glas und probierte einen Schluck. »Es ist wohl zu warm geworden, was?« Er stand auf, ohne Arkadys Antwort abzuwarten, und stellte das Becherglas in den Probenkühlschrank des Labors zurück. Es war ein wenig beunruhigend, wenn man daran dachte, was noch in diesem Kühlschrank aufbewahrt wurde. Aber wenn es aus dem Kühlschrank der Aurelias stammte, nahm Arkady an, dass es schon Schlimmeres erlebt hatte.
»Sag mal«, sagte Arkasha, als er auf seinen Hochsitz zurückkehrte. »Hast du je die Bibel gelesen?«
Arkadys Überraschung und Bestürzung war ihm wohl anzusehen, und Arkasha lachte und fügte schnell hin: »Nein, nein. Ich bin keiner von denen . Ich dachte nur an die Verse über den Sündenbock im Dritten Buch Mose.«
»Tut mir leid, ich kenne mich mit Ziegen nicht aus. Wie ist der lateinische Namen der Spezies?«
Arkasha lachte. »Es ist eine Metapher, keine Spezies. An Jom Kippur, dem Tag der Buße, bürdeten die alten Israeliten
alle Sünden dem Kopf einer Ziege auf und jagten sie in die Wüste hinaus, ›dass also der Bock alle ihre Missetat auf sich in eine Wildnis trage …‹ «
»Ich fürchte, ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst«, sagte Arkady, der sich nur zu bewusst war, wie aufgeblasen er klang.
»Nein? Statt der Wüste haben wir Euthanasiestationen. Und statt Jom Kippur haben wir die Auslese- und Bewertungsrunden. «
»Das ist doch lächerlich, Arkasha! Renormierungszentren dienen der Rehabilitation, nicht der Bestrafung. Und selbst diejenigen, die sich nicht mehr in ihre heimatlichen Brutstationen integrieren lassen, können von der Station aus ein glückliches, produktives Leben führen.«
»Tatsächlich? Nenn mir jemanden, dem es gelungen ist.«
»Rumi.«
»Rumi, stimmt. Ich habe mich schon gefragt, wann wir auf ihn zu sprechen kommen würden. Das ist brillant, nicht wahr? Man lässt einen toten Dissidenten zum berühmten Dichter werden und kann mit seinen Gedichten jedem lebenden Dissidenten vor der Nase herumwedeln, um zu beweisen,
Weitere Kostenlose Bücher