Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
die Küche noch aufräumen. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster. Einige weißgekleidete Arbeiter tragen die in Folie verschweißten Fleischstücke von der Ladefläche des LKW zu dem benachbarten Lagerhaus. Ich höre das Warnsignal eines zurücksetzenden Lastwagens und reiße die Seite mit den Haikus aus meinem Notizbuch heraus. Ich muss das Flugzeug bekommen. Ja, ja, schrie ich. Das Wohnzimmer habe ich schon geputzt oder zumindest das, was einem sofort ins Auge springt. Ich schalte den Ventilator wieder ein. »Jetzt wollen wir doch mal sehen«, sagt sie, während sie das gewellte Papier der Speisekarte vor sich ausrollt. In der Wohnung ist es so heiß, dass sich mein ganzes Leben auf einmal in einen einzigen Wassertropfen verwandelt, der in der Luft hängt. Er fällt nicht, er kommt nicht an, er verdunstet noch in der Luft. Das klare Licht. Noch immer stehe ich in Gedanken in der Wohnung, noch immer schaue ich auf die Schweißränder auf der Couch. Oder: Das klare Licht bricht . Ich muss unbedingt diese Haikus auswendig lernen, denke ich die ganze Zeit. Das ist das Wichtigste. Schon wieder fällt ein Schweißtropfen herunter. Immerhin lebe ich noch.
Er ist wie eine Schicht, die schützt und gleichzeitig an einem zehrt. Eine unsichtbare parasitäre Hülle, die aus einem herauswächst, um sich schon im nächsten Moment in Luft aufzulösen. Wie Kleidung, der man nicht traut, oder Kleidung, die sich selbst nicht traut. Eine Schicht, die zurückweicht. Etwas, das aus dem Körper flüchtet und nicht weit kommt. Etwas, das einen Blick nach draußen riskiert. Im Spiegel des winzigen Badezimmerschränkchens von Michael und Janette sieht es so aus wie eine ölige silberne Rüstung, die schwer auf den Schultern liegt. An manchen Tagen schwitze ich einfach so, ohne dass ich es merke, und es scheint keine Rolle zu spielen. Aber schon im nächsten Moment schwimmt der ganze Körper davon, und man verliert allen Halt. Ich klappe das Notizbuch wieder zu und gehe in die Küche. Ich lasse das Wasser im Bad laufen, während ich vor dem Ventilator auf dem Fußboden knie und das arabisch aussehende Tongefäß zusammenklebe. Als ich den Staub rund um das Tongefäß mit einem kleinen Schwämmchen zu beseitigen versuche, bricht das Regal in sich zusammen. Es ist eines der vielen unvorhergesehenen Ereignisse, die sich der Hitze und der nervlichen Anspannung verdanken. Ich habe Michael und Janette noch nie in meinem Leben gesehen, ich habe sie noch nicht persönlich kennengelernt, aber ihr arabisch aussehendes Tongefäß habe ich schon kaputt gemacht. Den Büchern in den Regalen zufolge beschäftigen sie sich mit Literaturwissenschaften und Philosophie. Janette macht Video-Installationen, jedenfalls hat mir das Mads Christiansen erzählt. Die Wohnung ist so schlicht, dass Judith sie gar nicht zur Kenntnis nimmt. »Wie findest du sie«, frage ich sie. »Sie ist ganz schön, oder?«, sagt sie. Etwas Schlimmeres ist aus ihrem Mund kaum vorstellbar. Ganz schön? Die Dielen haben langgezogene Risse, in denen sich Staub und Dreck sammeln, die Möbel sind alt und verschlissen, aber die Wohnung gefällt mir. In der Nachbarschaft gibt es viele kleine Betriebe und Lagerhallen. Flache Gebäude mit Rolltoren und Backsteinwänden, die mit Graffiti bemalt sind. Direkt nebenan ist das Kühlhaus einer Fleischverarbeitungsfirma, aber sonst gibt es nicht viel zu sehen. Der interessantere Teil von Williamsburg ist einige Straßenzüge entfernt, und Michael und Janette sind die Ersten aus der Kunstszene, die dieses Gebiet erschlossen haben. Lohnt es sich, das Gefäß wieder zu reparieren? Es sind mehr als ein Dutzend Teile. Ich drehe mich nach dem kleinen Plastikwecker um, den ich für einen Dollar gekauft habe. Der Plan, am Flughafen einen Kaffee zu trinken und in Ruhe Notizen zu machen, erscheint mir auf einmal unrealistisch. Judith sagt: »In Washington ist es genauso heiß, aber es macht mir nichts aus.« Sie ist vom ersten Moment an müde und erschöpft. Vielleicht, weil die Busfahrt so anstrengend gewesen ist und die langwierige Auseinandersetzung, die ihrem Besuch vorausgegangen ist, ihr die Laune verdorben hat. Sie trägt keinen Lippenstift. Sie hat noch nicht mal ihren Make-up-Koffer dabei, als ich sie am Busbahnhof abhole. »So ein Mist«, sagt sie. »Ich habe meinen Inhalator vergessen.« Für einen Moment bricht sie aus dem symphonischen Kosmos ihrer Harmonie aus und ist tatsächlich wütend. »Mist«, sagt sie. »Wirklich. Scheiße.« Sie beißt
Weitere Kostenlose Bücher