Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
Auseinandersetzung kommt, sage ich ihm, dass es mir leidtäte, dass es ausgerechnet jetzt passiert sei, es würde auch mich belasten und er könne versichert sein, dass wir genau an der Stelle bei meiner Rückkehr wieder anknüpfen und genau dort weitermachen würden. Ich sage zu ihm: »Wir fangen genau an der gleichen Stelle wieder an.« Und um ihn zu beruhigen, mache ich mir in meinem Kalender sofort einen Vermerk. »Jetzt guck dir das an«, sagt Judith. Sie hat sich die Handtasche über die Schulter gehängt und schaut nach oben.
In meiner Erinnerung konzentriert sich diese Nacht auf genau diesen Moment. »Jetzt guck dir das an«, sagt sie und kneift die Augen zusammen. »Was meinst du denn?«, frage ich, während sie zu den Fenstern der Wohnung von Michael und Janette schaut. »Es ist niemand da.« »Wieso?« »Die Leute sind weggegangen.« »Welche Leute?« »Na die, die da wohnen.« Ich schaue auf die Fenster. Sie möchte nicht zugeben, dass sie müde ist und sich am liebsten sofort hinlegen will. Als wir das koreanische Restaurant verlassen, sagt sie noch: »Das ist total aufregend! Jetzt schauen wir uns Williamsburg an.« Dabei sind wir schon mittendrin. Sie hakt sich bei mir ein. Wir sind ein Paar, das sich gerade erst kennengelernt hat. Tatsächlich fühlt es sich so an, als würden wir ausgehen. »Vielleicht schlafen sie ja schon«, sage ich. »Und was ist, wenn sie nicht aufmachen?« »Dann klingeln wir sie raus«, sage ich. »Das lassen wir uns doch nicht bieten.« Sie lächelt. Wie hat ihr Gesicht vorher ausgesehen? In den fünf Jahren davor und in den zwei Tagen, während derer wir uns in New York gesehen haben. Der Duschvorhang in der Wohnung von Michael und Janette ist so verschimmelt, dass ich ihn direkt nach meiner Ankunft mit einer Schnur zusammengebunden habe, um Judith den Anblick zu ersparen. Die Dusche sieht ohne Vorhang nicht besonders vertrauenerweckend aus. Sie besteht aus einem gemauerten Winkel im Badezimmer, zu dem man nur gelangt, wenn man sich zwischen Waschbecken und Toilette hindurchzwängt, um dann auf einmal wie unter einem Felsvorsprung zu stehen, unter dem das Wasser leise tröpfelt und dann unverhältnismäßig laut auf den Steinboden schlägt. Ich höre das Tröpfeln, als sie morgens unter der Dusche steht. Die Wassertropfen, die auf den Stein prallen. Das Wasser, das zu warm und zu unergiebig ist. Es sind diese Geräusche, die mich daran hindern, die Wohnung und auch New York zu verlassen. Der Duschvorhang, milchig weiß und mit seinen in Plastik eingeschlossenen Luftblasen, seinem grauen Schleier aus Schimmelflecken, wie er in aller Unschuld in der Ecke hängt. Die durchlöcherten Fliegengitter vor den Fenstern, die verstaubten Regale, die Ritzen und Spalten auf den Fußböden. »Wo sind diese Leute denn hingegangen?«, frage ich sie. »Die spazieren hier irgendwo rum«, sagt sie, sich an mich lehnend. »Vielleicht gehen die jetzt irgendwo noch was trinken.« »Jetzt?« Sie schaut auf die andere Straßenseite. Auf einmal hat sie das Interesse an der Unterhaltung verloren. Am nächsten Tag, als wir spazieren gehen, bleibt sie alle paar Meter stehen und muss sich ausruhen. Sie kriegt keine Luft mehr. Mads Christiansen hat mir einmal erklärt, dass Asthma eine »königliche Krankheit« sei, eine »auratische Krankheit«. Und dass er es nachvollziehbar fände, wenn Judith mit mir morgens nicht joggen gehen will, und dass sie keine Luft mehr bekommt, wenn ich nachts so schnell einschlafe. Ausgerechnet in New York. Das Königliche des Asthmas. Wie jede Bewegung hinterfragt und überprüft wird, wie man darauf achtet, dass man sich nicht verausgabt und sich immer im Gleichgewicht hält. Die Fortbewegung von A nach B und das Laufen an sich bekommt auf einmal etwas Unwürdiges. »Ja, die spazieren hier irgendwo rum«, sagt sie. »Die gehen noch aus.« Ich überlege, ob ich mich noch einen Moment hinlegen soll. Die Couch steht direkt am Fenster, und dort ist es vielleicht etwas kühler. Auf der Couch liegen die alten Ausgaben der New York Times. Zeitungen von einer ganzen Woche. Im Luftzug der Ventilatoren heben und senken sich die vordersten Seiten, und die Zeitungen scheinen sich mit Luft aufzupumpen und noch ein letztes Mal auf sich aufmerksam machen zu wollen. Irgendwo darunter muss das Buch von Kyra sein, das Judith vergessen hat. The Mask of Anarchy . Es muss irgendwo unter den Zeitungen liegen. »Wir fangen genau an der gleichen Stelle wieder an«, sage ich zu Lambert, in der
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