Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
sich auf die Unterlippe. Für einen Moment scheint es denkbar, sie könne sofort nach Washington zurückfahren. Warum ich eigentlich nicht kommen will, hat sie einmal gefragt, bei einem unserer nächtlichen Telefonate, in der ersten Woche, als ich draußen in der lauen Abendluft vor dem an einer Hauswand angebrachten Telefon in der Grand Street stehe, den Verkehr im Rücken, ihre Stimme im Ohr, und ununterbrochen Geldstücke in den blauumrandeten Metallschlitz stecke. »Warum kommst du nicht zu mir?« Geldstück um Geldstück, als wäre es eine Vergnügungsmaschine, eine Stimmen-Peepshow, während sie in ihrer kleinen Wohnung in Washington sitzt, im zwölften Stock eines ehemaligen Hotels, und ihre fellartigen grünen Riesenhausschuhe trägt, nach denen ich am Ende fast noch mehr Sehnsucht habe als nach ihr selbst. Sogar Baltimore oder die Fahrt nach Paris steht jetzt in der Rangfolge unserer Reisen besser da, wenn man es mit dem Wochenende in New York vergleicht. Ich schaue auf die Couch. Das orangerote Velours der Couch. Die Schweißtropfen, die nicht trocknen und Flecken hinterlassen. Und wie Judith sich sofort hinlegt, kaum dass wir die Wohnung betreten haben. Es ist nur eine Nacht. Noch dazu auf zwei verschiedenen Betten. Wir laufen durch die Hitze. Aber wir schauen uns nichts an. Wir sind blind für die Sehenswürdigkeiten von New York. Eine Stadt, die sich aus unserer Umklammerung nicht befreien kann und ununterbrochen transpirieren und schwitzen muss. Und ich denke in diesem Moment, dass Judith beim Sex immer so aussieht, als würde die Welt untergehen, während Gabriela mich immer so ansieht, als hätte sie Grund, wütend auf mich zu sein, als sei sie verärgert, obwohl das ihre Art ist, Lust auszudrücken. Sie ist einen Kopf kleiner als Judith. Ihr im Vergleich zu Judith fast winziger und sich beim Sex geradezu verschluckender Körper. Ihr zimtfarbener, anbetungswürdiger, verschwenderischer Körper. Gabriela, deren Körper strahlt, leuchtet, in meiner Erinnerung in Flammen steht.
Vielleicht liegt es an der Klimaanlagenluft. Als wir den Busbahnhof betreten, hat sie auf einmal wieder gute Laune. Ich vergesse das Geschenk, das kleine grüne SchmuckKreuz, das ich auf dem Hinweg bei der Zwischenlandung in Chicago für sie gekauft habe. Ich trage es die ganze Zeit mit mir herum, und am Busbahnhof, am Port Authority Bus Terminal, vergesse ich es auf einmal. Nur wenige Meter von dem Mitarbeiter der Busgesellschaft entfernt, der die Tickets kontrolliert. Sie hält den Kopf wieder so hoch. Das ist der Museumsblick. Ein Blick, den ich von den vielen gemeinsamen Ausstellungsbesuchen schon kenne. Ihr Blick ist eine Mischung aus Erhabenheit und Leere. Ihre Handtasche geschultert und die Haare hochgebunden. So steht sie im Museum vor den Bildern. So als wollte sie sich ihnen zur Verfügung stellen. Als hoffte sie, etwas von der Aura der Bilder würde sich auf sie übertragen. Ich erinnere mich, wie sie bei der Lucien-Freud-Ausstellung, von der ich nicht mehr weiß, wo wir sie gesehen haben, schon den ersten Bildern mit dieser aufrechten, den Kopf gleichsam rahmenden Aura gegenübertritt. Als wollte sie sagen: Zeigt euch von eurer schönsten Seite, dann zeige ich mich auch von meiner schönsten Seite. Dabei sind die Gemälde von Lucien Freud gar nicht schön. Ich knie auf dem Boden und lege die Scherben des arabischen Tongefäßes zusammen. Was würde Judith jetzt sagen? Würde sie Mitleid mit mir haben? Und dann zeigt sich wieder ihre Präsidentengattinnenhaftigkeit, während wir vor einer dicken nackten Frau stehen und sie die Bemerkung macht: »Wusstest du eigentlich, dass er ein Enkel von Freud ist. Also dem Freud?« Und sie in ihrer typischen somnambulen Leere an mir vorbei auf ein anderes Bild schaut, um meine Reaktion einfach zu ignorieren. »Mir gefällt, wie die Frau aussieht«, sagt sie. »Die Haut sieht gar nicht so alt aus, wenn man die Augen zusammenkneift.« »Ja, wenn man die Augen zusammenkneift«, wiederhole ich, um nicht Gefahr zu laufen, belehrend zu wirken. Dabei kennt sie sich mit Kunst ohnehin viel besser aus als ich. Sie entdeckt ständig neue Künstler und neue Museen und erinnert mich daran, wenn wir uns mal wieder etwas anschauen müssen. Sie streicht sich mit ihrer rechten Hand über den Nacken, fährt mit der abgekauten Spitze ihres Zeigefingernagels über ihren entblößten Hals. Wie um Himmels willen schafft sie es, so gedankenlos und unvoreingenommen zu sein? Sie schaut auf die Bilder. Auf
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