Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
durchbrechen. Im Kontakt zu meinen Klienten ist mein Schweigen kraftvoll, im Beisein von Judith ist es tatsächlich nur Stille und Sprachlosigkeit. Und dass ich dann denke, wir könnten sie spazierengehenderweise überwinden. Bei der Besichtigung der auch für Judith noch unbekannten und geheimnisvollen Stadtteile Williamsburg und Brooklyn Heights. »Es ist doch gut, wenn wir hierbleiben«, sagt sie, als wir in einem Café in der Bedford Avenue sitzen und frühstücken. »Wir müssen nicht alles anschauen, nur weil wir es uns vorgenommen haben.« Das ist ihr besonderes Talent. Ihre Anpassungsfähigkeit, von der ich aber glaube, sie wendet sie nur auf mich an, während ihr eigenes Leben einem genau festgelegten Plan folgt. Und dann bin ich ihr auch noch behilflich, die U-Bahn-Station zu finden, als läge es in meinem Interesse, dass sie die Stadt so schnell wie möglich verlässt. Sie hustet und bleibt stehen. Nicht weit vom jüdischen Viertel, in der Nähe der Division Street. »Wusstest du eigentlich, dass ich jüdische Vorfahren habe?«, überlege ich zu sagen, aber ich fürchte, sie würde die sich anschließende Geschichte nicht hören wollen und nur matt und uninspiriert »ja?« fragen. Es ist alles nicht richtig vorbereitet. Es ist ein Spaziergang, den ich selbst ein paar Tage zuvor gemacht habe, aber zu einer Tageszeit, als es noch angenehm kühl ist. Sie will nicht nach New York, sie will lieber in Washington bleiben. »Du kannst doch auch kommen«, sagt sie am Telefon, als ich sie einmal in der Mittagspause in Washington anrufe. Abends arbeitet sie im Afterwords-Café neben der Buchhandlung Kramer, in der Nähe des Dupont-Circles. Ihre Freundin Kyra kennt den Besitzer und hat ihr den Job besorgt. Manchmal geht sie, wenn sie mit der Arbeit im Robert-Kennedy-Institut fertig ist, direkt rüber ins Café. Sie trägt diese dunkelblaue Schürze mit einer Gedichtzeile aus Howl , weil die Geschäftsleitung ihren Gästen den Eindruck vermitteln will, auch die Leute, die im Afterwords-Café arbeiten, lieben die Literatur. Als ich sie das erste Mal in Washington besuche, muss ich dort eine Stunde auf sie warten und zuschauen, wie sie in dem halbleeren Café die Tische sauberwischt. Am Ende ist es doch Wut und keine Trauer, dass sie kaum noch etwas sagt. Sie will spazieren gehen, nicht laufen. Soll ich sie bewundern? Dafür, dass sie in einem halbleeren Café die Tische sauberwischt? Wieder einmal frage ich mich, ob man an einem Asthma-Anfall so ohne weiteres sterben kann. Ihre Gesichtszüge verzerren sich. Ihre ganze Wut oder ihre Trauer ist in diesem Moment in ihre verstopften, verklebten Lungenflügel hineingeflohen. Noch in der Schlange vor dem Port Authority Bus Terminal, kurz bevor wir uns verabschieden, überlege ich, ob ich ihr nicht doch von unserer Katze erzählen soll, obwohl ich sie eigentlich damit verschonen wollte. »Ich vermisse sie so sehr«, sagt sie am Telefon, aber in New York hat sie nicht ein einziges Mal nach ihr gefragt. Wut oder Trauer. Diese beiden Gefühle sind bei ihr schwer auseinanderzuhalten. Ihre Trauer sickert in ihre Lungen hinein. Die Schwingungsfrequenz ihrer Lunge nimmt die Frequenz ihrer Trauer an, die in Wirklichkeit vielleicht Wut ist. Ihre Trauer, unsere Trauer oder meine Trauer verlangsamt sich, die Schwingungsfrequenz verlangsamt sich, und die Trauer senkt sich in ihre Lunge hinein, beinahe schon am Ende der Bedford Avenue, als wir entscheiden, doch die U-Bahn zu nehmen. In diesem Moment ist es zu spät. Sie atmet kaum noch, sie schaut mich mit einem verzerrten Gesichtsausdruck an. Das ist unsere gescheiterte Trauerarbeit. »Wollen wir die U-Bahn nehmen?«, frage ich. Es ist ein großer Umweg, und wir gewinnen kaum Zeit. Sie sagt nichts. Sie schaut mich nur an. »Sollen wir?«, frage ich. Die Trauer ist in ihr angekommen, versteckt sich in ihr, oder sollte ich nicht besser sagen: Entzieht uns das letzte bisschen Atemluft, das letzte bisschen Freiheit, das wir noch haben. »Ich kenne da einen kleinen Park, direkt am Wasser. Da kannst du die beiden Brücken sehen. Willst du da hin? Wir fahren mit der U-Bahn.« Ich sehe mich nach einem Taxi um, obwohl ich sie vorher noch darüber belehrt habe, wie teuer Taxifahren hier ist. »Es ist ein schöner Park, er wird dir bestimmt gefallen … Aber wir können natürlich auch zu Fuß gehen.« Als würde ich mich hier auskennen, als hätte ich irgendeine Ahnung von New York. Nach zehn Tagen, während derer ich sie täglich angerufen habe,
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