Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
letzten Stunde vor meiner Abreise aus München. Ich habe seine Stunde vorverlegt, und er ist jetzt der erste Klient, den ich nach meiner Rückkehr treffen werde. »Ich lasse Sie nicht hängen«, sage ich zu ihm. »Aber ich traue Ihnen schon zu, dass Sie zwei Wochen ohne Therapie auskommen.« Lambert schaut mich an. Ich bin mir nicht sicher, ob er die Therapie nicht einfach abbricht, so gekränkt wie er ist, und ich frage mich, während ich die Zeitung zusammenpacke und ins Badezimmer hinübergehe, ob das ohnehin nicht das Beste für ihn wäre. »Komm«, sage ich zu Judith. Ich versuche das Spielerische des Augenblicks noch aufrechtzuhalten. »Wir gucken mal.« Sie schaut zur anderen Straßenseite. Man hört Schritte, die langsam näher kommen. »Was?«, murmelt sie abwesend. Die Tasche rutscht ihr von der Schulter. »Was gucken wir?«, fragt sie. »Wir schauen mal, ob sie da sind.« Ich nähere mich vorsichtig der Haustüre und schaue auf das Klingelschild, auf dem gar nicht Michael und Janettes Namen stehen, sondern nur die Nummern der verschiedenen Wohnungen. »Die werden sich wundern«, sage ich. Es ist fünf Tage her, eine halbe Ewigkeit. Ich lege den Arm um sie, aber ich glaube, dass sie das gar nicht merkt, so abwesend wie sie auf einmal wirkt. »Die werden ihr blaues Wunder erleben«, sage ich und drücke auf die Klingel.
2
Es ist gar nicht die Nacht, die so ungünstig verlaufen ist. Es ist der Spaziergang. Der Sonntag, an dem wir durch New York laufen. Im Grunde laufen wir die ganze Zeit, ohne aber genau zu wissen wohin. Wir gehen aus dem Haus, frühstücken, und dann laufen wir. Ich mache dies vielleicht in dem Glauben, wir würden irgendein Ziel erreichen, irgendeinen Ort finden. Die Terrasse des Cafés in der Bedford Avenue, die Parkbank im Fulton Park, die Aussichtspromenade in Brooklyn Heights, die zwei dunkelblauen, viel zu engen, Beklemmungen auslösenden Sessel im obersten Stock des Cafés in der Montague Street und dann, so als hätten alle anderen Möglichkeiten keine Bedeutung, das Port Authority Bus Terminal. Die Warteschlange der Passagiere, die nach Washington fahren. Vier oder fünf, die noch vor uns sind. Drei Minuten, die uns noch bleiben, die wir mit Belanglosigkeiten füllen, obwohl es mir in diesem Moment wie ein Aufschrei durch den Kopf schießt: Noch drei Minuten und ich sehe sie die nächsten vier Monate nicht wieder. Am Abend im Restaurant habe ich noch gedacht, ich hätte einen ganzen Tag Zeit, sie zu überreden, noch länger zu bleiben, aber dann ist es auf einmal zu spät. Ich habe den richtigen Moment verpasst. Ich höre ein lautes Dröhnen, als ein Lastwagen in die Straße hineinfährt. »Vielleicht fängst du mal langsam mit dem Aufräumen an«, sagt eine innere Stimme. Eine Stimme, die erstaunlich rücksichtslos und brutal ist und die ich bei meiner Arbeit mit meinen Klienten zügeln muss. Eine Stimme, die aber auch von großem Nutzen sein kann und mich davor bewahrt, die Kontrolle zu verlieren. »Das klare Licht bricht in der Dunkelheit hervor«, heißt es in dem Haiku, der auf der Serviette abgedruckt ist, in dem kleinen koreanischen Restaurant, in dem wir essen. Es könnte der erste Haiku gewesen sein. Den zweiten habe ich direkt danebengeschrieben, sodass ich die beiden jetzt kaum noch auseinanderhalten kann. »Ja, ja, schrie ich, doch das Klopfen hörte nicht auf am verschneiten Tor.« Aus irgendeinem Grund habe ich sie ohne Zeilenumbruch abgeschrieben, und jetzt weiß ich nicht, wie sie zu unterteilen sind. Judith mag keine Haikus. Schon gar nicht in einem koreanischen Restaurant. Ihre Abneigung ist jedoch so unterschwellig, als versuche sie, die japanische Diskretion noch zu überbieten. Einmal sagt sie: »Ich mag ihn.« Und ich frage sie: »Magst du ihn wirklich? Den oder den anderen?« »Beide«, sagt sie. Aber es ist nicht die Wahrheit. Ich kann nicht sagen, dass ich glaube, sie lügt. Wie soll ich ihr das sagen? »Haben sie denn in Korea keine Haikus?«, frage ich. »Bestimmt nicht«, sagt sie. Wieso schreibe ich die Haikus ab, ohne den Zeilenumbruch zu beachten? »Das klare Licht« oder »das klare Licht bricht«? Ich könnte es rekonstruieren, man könnte das hinbekommen. Sie presst sich die Serviette gegen die Lippen. Es ist die größtmögliche Aggression, zu der sie fähig ist. »Das Klopfen am verschneiten Tor.« Ich muss es auswendig lernen, mir alles merken, solange die Erinnerung noch frisch ist. Ich habe noch immer das Bad nicht geputzt, und ich muss auch
Weitere Kostenlose Bücher