Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
die wuchernde düstere Haut der Nackten von Lucien Freud. In der Ausstellung, die wir nicht in Deutschland, aber mit einiger Sicherheit auch nicht in London und schon gar nicht in Washington gesehen haben. Eine Ausstellung, die wir irgendwo gesehen haben, irgendwo auf unserer langen Wanderschaft, die unserem ständigen Bedürfnis geschuldet ist, die Schauplätze unserer Beziehung zu verlagern und möglichst jeden Monat auf einer anderen Bühne aufzutreten. Wie sie schon ins Museum hineingeht. Als begrüße sie ihre Gäste. Trotzdem kann ich nicht anders, als ihren zärtlichen Hochmut in diesem Moment zu bewundern. Sie selbst würde vor Scham erröten, wenn ich auch nur eine Andeutung machen würde. Wenn ich sagen würde, sie sei hochmütig oder, was noch schlimmer wäre, aggressiv. Ist sie aggressiv, wenn sie von der »Haut der alten Frau« spricht, die so aussieht »wie ein Feld«, das gerade eben »gepflügt« worden ist? Eine Frucht, die gerade »gepflückt« worden ist? In London? In Düsseldorf? Oder doch in München? Sie lächelt. Sie wirft den Kopf zurück. Weniger vielleicht, dass sie ihn zurückwirft, als dass sie ihn zurücklegt, etwas in die Rückenlage geht, um ihren Ausbruch von Lachen abzusichern und zu stabilisieren. Sie lacht, umgeben von diesen schmierigen traurigen Bildern des Enkels von Sigmund Freud. Sie lacht, wie man sagen könnte, rückwärts, nach hinten gewandt. In New York sind ihre Lippen blass und hell. Sie hat den Lippenstift nicht nachgezogen, während wir die langgezogene Bedford Avenue entlanglaufen, um dann doch mit der U-Bahn zum Fulton Park zu fahren. In dem kleinen Park hat man eine wunderbare Aussicht auf Manhatten. Man befindet sich direkt zwischen Brooklynund Manhattan-Bridge, aber wir haben kaum Zeit, uns auf eine der Bänke zu setzen und uns auszuruhen. Kurze Zeit später muss sie zum Busbahnhof zurück. Es ist ungeheuerlich. Sie schaut sich jedes Bild an. Es können noch so unbedeutende Skizzen sein, sie schaut sie sich an. Im Gegensatz zu ihr möchte ich die gesamte Ausstellung mit einem Blick erfassen, damit ich weiß, auf was ich mich einzustellen habe. Sie aber schenkt jedem noch so kleinen Kopf, jedem noch so fragmentarischen Porträt ihre ganze Aufmerksamkeit. »Haben nicht alle Lucien-Freud-Gesichter den gleichen Ausdruck?«, frage ich sie. Sie nickt, den Mund fest geschlossen, ein Ausdruck erotischer Verweigerung. Wenn sie doch nur ein einziges Mal den Kopf schief legen würde. Aber sie muss ihre Museums-Haltung wahren. »Ich finde das auch«, sagt sie in ihrer grenzenlosen Kompromissbereitschaft. »Sie sind geheimnisvoll. Ein bisschen mysteriös.« Sie gerät in Fahrt, zeigt einen Moment der Leidenschaft. »Ja«, sagt sie, »wir denken immer, wir kennen schon alles.« Sie sagt immer »wir«, wenn sie philosophisch wird. »Wir tun so, als verstünden wir alles. Aber manchmal verstehen wir uns selbst nicht. Und hier«, sie zeigt auf ein anderes Bild. »Findest du nicht, dass es brutal aussieht?« Ich verstehe nicht, was sie meint. »Oder gefällt es dir nicht, weil es nicht abstrakt ist?« Weil es nicht abstrakt ist? Sie spitzt die Lippen und legt den Kopf schief, um mich nachzumachen. Tatsächlich liebe ich sie dann am meisten, wenn sie mich nachahmt. Wie ist das zu beurteilen? Was heißt das? Ich liebe sie, wenn sie mich nachahmt. Wir gehen zu einem anderen Bild, in einer Ecke, wo ich noch nicht gewesen bin. Sie will mir etwas zeigen. Möchte sie mir ein Bild zeigen, in dem wir uns wiederfinden können? Ich kann mich an kein einziges Lucien-Freud-Bild erinnern. Ich sehe immer nur sie. Wie sie die Bilder anschaut und wie sie immer sagt: »Was wir denken. Was wir wissen … Als würden wir das alles verstehen.«
3
Zu diesem Zeitpunkt bleibt uns noch eine halbe Stunde. Das Geschenk ist in meiner MRI-Konferenz-Tasche, die eigentlich Mads Christiansen gehört und die ich die ganze Zeit mit mir herumtrage. Die Aufschrift ist schon etwas verblasst. Mental Research Institute. Mads Christiansen hat drei Jahre dort studiert. Zusammen mit dem Reiseführer und meinem Notizbuch trage ich noch eine dünne Wolljacke in der Tasche, falls es in den klimatisierten Räumen zu kalt wird. Aber den ganzen Tag haben wir keine klimatisierten Räume erreicht. Die Bank im Fulton Park liegt immerhin im Schatten. Vielleicht ist das Ausdruck meines gestörten Verhältnisses zu meinem Beruf, dass ich es nicht schaffe, mit ihr zusammen zu sein und unsere bedrohliche Sprachlosigkeit zu
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