Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
den Büchern von Michael und Janette, direkt neben Ilja Kabakov, in das Regal, in dem jetzt die Bruchstücke des arabischen Tongefäßes in einem Briefumschlag mit fünfzig Dollar liegen. »Noch einmal.« Oder: »Ja, genau so.« Ich wundere mich, dass sie sich das so einfach bieten lassen, dass sie sich dazu hergeben. Und dann meine Verzweiflung am Abend, als ich in meiner Panik, nicht rechtzeitig zu dem vereinbarten Telefonat mit Judith in der Grand Street zu sein, mit dem Taxi nach Williamsburg fahre, nur um wieder von derselben Telefonzelle aus anrufen zu können. Annes Gesicht. Ihre Hände auf den Oberschenkeln, ihre schmalen leicht geröteten Finger. Ihr Blick, als ich auf den glänzenden Film auf ihrem Körper schaue, das geräuschlose Leuchten des Speichels von Anna, der in meiner Erinnerung an diese Aufführung, diese atonale Symphonie dröhnend laut ist. Ein sprühender, eiskalter Tusch. Anna möchte ein Papiertaschentuch holen, aber ich verbiete es ihr. Später sitzt sie über die Tastatur des Computers gebeugt und tippt Nachrichten nach Polen ein. Sie hat einen Freund, eine Art Ehemann, so ganz bekomme ich es nicht heraus. Sie tippt ununterbrochen, als verfasse sie einen Bericht über das, was passiert ist, einen Bericht an eine Zentrale, an jemanden, dem wir darüber Rechenschaft ablegen müssen. Und wie Anne dann plötzlich weint. Ich sehe es, tue aber nichts. Anna bemerkt es gar nicht. Sie ist in einer unwürdigen Haltung in ein »Gespräch« mit Annes Körper vertieft, das ich immer wieder unterbreche, um Änderungen vorzunehmen. Die Tränen laufen in einer langen geraden Linie über ihre Wange und bleiben in ihrem Mundwinkel hängen. Ich sage, und ich bereue es später wieder: »Mach den Mund auf.« Ich sage es auf Englisch, aber es klingt in meiner Erinnerung auf Englisch viel zu sanft. »Mach den Mund auf.« Diese Symphonie, diese großartige, alle Körper miteinbeziehende, alle Möglichkeiten, alle nur denkbaren Interaktionen durchspielende Komposition. Es ist schade, dass wir den Spiegel nicht auch noch benutzen, und ich überlege noch, ob wir nicht unterbrechen sollen, als Anne ihren Mund öffnet, einen Spalt nur, und ihre Träne langsam in ihren Mund hineinläuft. Fünfundfünfzig Dollar allein für das Taxi. Eine Kurzschlusshandlung, nur damit ich rechtzeitig zu Hause bin, mein Kleingeld holen und zu unserer Telefonzelle in die Grand Street gehen kann. Es ist schon kurz nach Mitternacht, als ich Judith schließlich erkläre, ich hätte beschlossen, dass sie kommen muss. Eine Viertelstunde vorher habe ich noch in einem Internetcafé gesessen und ihre E-Mail gelesen, in der sie mir zum zweiten Mal innerhalb von achtundvierzig Stunden absagt. »Also gut«, schreibe ich, »wenn du es unbedingt willst. Wenn du es unbedingt auf einen Machtkampf ankommen lassen willst.« Die Träne läuft über ihre Wange, tastet sich über ihre Oberlippe vor, läuft dann, sich meinen Blicken entziehend, in ihren halbgeöffneten Mund. Ich stehe vor der Telefonzelle, in der warmen Nacht von Williamsburg. Judiths Stimme ist ein kleines, in ein Kästchen verpacktes Geschenk. Ich klammere mich an den Telefonhörer und starre auf den schmuddeligen Metallkasten, in dem ihre Stimme festzustecken scheint, starre auf die Schrift auf dem Telefon, »Coin«, »Collect«, »Local Calls«, und auf den großen geriffelten Drehschalter, auf dem »Coin Release« steht. Meine 25-Cent-Stücke fliegen nur so in den Kasten hinein, fünf Dollar verschwinden innerhalb von Sekunden. Ich bekomme es nicht hin. Ich schreie sie fast an, ich verliere die Nerven. Als ich mich umdrehe, sehe ich eine leere Plastiktüte in den Himmel aufsteigen, mit kreisenden suchenden Bewegungen, immerfort Luft holend, und ich hätte ihr, wenn ich etwas geistesgegenwärtiger gewesen wäre, »Stop. Don’t move!« zurufen können, stattdessen lege ich auf. Wütend und mit meinen Nerven am Ende. Ein Widerschein von Licht, das sich in Flüssigkeit verwandelt und sich in den hellen mageren Körper von Anne einbrennt.
5
Lieben wir uns noch? Wir verlieren kein Wort darüber. Diese Frage scheint keine Rolle mehr zu spielen. Wir tun so, als sei das außerhalb unseres Vorstellungsvermögens, eine Frage aus einer anderen Wirklichkeit. Ich versuche es im Fischrestaurant, in Baltimore, kurz bevor der Strom ausfällt. Aber als der Notstromgenerator anspringt, habe ich es schon wieder vergessen. Vielleicht ist es der Anblick der weißen Sauce auf dem glasigen Berg von Nudeln,
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