Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
die wie eine weiße Perücke aussehen, die sich eine alte Frau vom Kopf gerissen hat. Judith schminkt sich. Das morgendliche Licht blitzt auf, eine große metallene Tür, die irgendwo in der Ferne geräuschlos geöffnet worden ist. Hitze kommt vom Hafen, wo ich zuvor gewesen bin. Leere Flaschen, die aufs Meer hinaustreiben und wieder eingesammelt werden. »Mein Gott«, schreibe ich in meiner letzten E-Mail an Gabriela, nachdem sie mir ein Foto ihrer Zwillinge geschickt hat. »Wie sehr habe ich dich begehrt.« Jedenfalls in der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung stand. Judith schminkt sich. Der Anblick ihres Gesichts, das sich allmählich in etwas verwandelt, was ich begehre, ist bestürzend. Ihr Gesicht, das mir so vertraut ist, täuscht mich. Es verschönert sich so, dass ich später immer wieder zu mir sage: Es ist nicht dieses Gesicht, das dich betrügt und dir etwas vorgaukelt, sondern es ist ihr wahres Gesicht, ihr ungeschminktes, privates Gesicht, das sie allen vorenthält. »Du siehst so viel besser aus«, sagt Mads Christiansen, als er uns in München besucht. In der letzten Woche meines New-York-Aufenthalts treffen wir uns in einem unterirdisch gelegenen Restaurant in seiner Mittagspause in der Nähe des Rockefeller Centers. Es ist ein Mittagessen, das ich nicht so schnell vergessen werde. Mads Christiansen trägt eine graue Krawatte, die so schmal ist, dass seine gelenkigen Finger fast geringschätzig darüber hinwegtasten. »Du siehst so viel besser aus.« In Baltimore, im vierzehnten Stock. Ihr Gesicht ist ein großes goldenes Fenster, oder sollte man sagen, eine Agentur der Sonne und sie eine Aufsichtsratsvorsitzende des Lichts? Wie sie sich zum Fenster umdreht. Sie trägt einen enganliegenden Rock. Ihr großer dunkelgrüner Schminkkoffer steht aufgeklappt neben ihr auf dem Fensterbrett. Ihre Bewegungen sind routiniert. Sie nimmt einen Stift aus dem obersten Fach des Schminkkoffers, während sie mit der anderen Hand eine kleine Bürste festhält. Als wir später, auf der Suche nach dem Geburtshaus von Edgar Allan Poe durch die Stadt irren, ist ihr Gesicht zerlaufen und verschwitzt. Die Bürgersteige sind mit Müll und alten Zeitungen bedeckt. Vor einem Haus liegt eine mit Regenwasser vollgesogene Matratze. Ich erinnere mich an eine Geschichte von Poe über einen Affen, der aus der Obhut seines Herrn ausgebrochen ist und in der ganzen Stadt gejagt wird. Judith hat sie mir einmal vorgelesen, doch ich bin dabei eingeschlafen. Der Affe, glaube ich mich zu erinnern, erklimmt irgendwann ein Haus und versteckt sich in einer Wohnung, er sucht Schutz vor seinen Verfolgern. »Manchmal möchten wir eben ein bisschen gequält werden«, sagt Judith. »Wir fürchten uns, aber wir können gar nicht abwarten zu erfahren, wie es weitergeht. Und schon hat man wieder umgeblättert.« Sie wirft lachend den Kopf zurück. Jemand, der noch zuvor behände über die auf dem Gehsteig liegende Matratze gesprungen ist, dreht sich plötzlich um und bleibt vor uns stehen. Für einen Moment hoffe ich, dass irgendetwas passiert, und sei es, dass ich einen potenziellen Angreifer in die Flucht schlage. »Ihr sucht dieses Haus, was?«, fragt der Mann und grinst uns an. Es passiert weiter nichts, er erklärt uns nur, dass das Poe-Haus zurzeit geschlossen ist und gerade renoviert wird. »Was finden wir denn daran so gut, Angst zu haben?«, fragt Judith, als wir weitergehen. »Warum gefällt uns das so sehr?« Sie steigert sich fast in einen Rausch. Ich höre ihr zu, so wie ich Mads Christiansen zuhöre in dem unterirdischen Steakrestaurant, bevor ich ihm zu verstehen gebe, dass unsere Freundschaft zu Ende ist. »Das ist etwas, von dem du nichts verstehst«, sage ich zu ihm. Der Affe klettert an der Hauswand nach oben. Warum sage ich es ihr nicht? Warum nicht? Ich liebe sie, wenn sie Vorträge hält, wenn sie mir irgendetwas erklärt. Aber ich finde noch nicht einmal die Kraft, ihr ein Kompliment zu machen, als ich am frühen Morgen von meinem Spaziergang zurückkehre und sie in unserem Zimmer antreffe. Als sei sie ein höheres Wesen, eine Hochhaus-Stewardess, mit der ich schon in wenigen Augenblicken in den Himmel von Baltimore aufsteigen werde. »Wir können einfach nicht aufhören«, sagt Judith. »Es ist zu aufregend.« Sie doziert über Edgar Allan Poe. Es könnte auch J.G. Ballard sein. »Das könntest du doch auch mal analysieren«, sagt sie. Ich bin nicht darauf vorbereitet, dass sie geschminkt und fertig angezogen ist. Den Rock
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