Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
tauscht sie später wieder gegen eine Jeans aus. Wenigstens ein Kompliment hätte ich ihr machen können. Wenigstens das. »Das ist eben das, was du nicht verstehst«, sage ich zu Mads Christiansen, in Anlehnung an unseren Streit in München, im Café Freiheit. »Du verstehst es nicht, und trotzdem mischst du dich in meine Angelegenheiten ein.« Ich gehe auf sie zu. Die Sonne ist aufgegangen, steht auf halber Höhe über dem Hafen, Auge in Auge mit unserer Beziehung, dem Waffenstillstand, den wir vereinbart haben. »Lass uns gehen«, sagt sie. Es passiert nichts. Nicht in Baltimore. Ihr Gesicht ist wunderschön. Wir spazieren im diesigen Mittagslicht und suchen das Haus von Edgar Allan Poe. Es ist das Gesicht, das Gestalt angenommen hat, anders kann man es nicht sagen. Sie hält es mir hin, beziehungsweise sie hält es sich selbst hin. »Haben wir gestern Nacht eigentlich Sex gehabt?« Kann man eine unpassendere, eine hilflosere Frage stellen? Es ist natürlich als Witz gemeint, als lässige Bemerkung, die zwischen Paaren, die schon hundertausendmal Sex gehabt haben, eine große gemeinsame Intimität heraufbeschwört. Sie tritt ans Fenster. Die Aufsichtsratsvorsitzende, die Frau im dunkelblauen enganliegenden Rock. Ganz Baltimore liegt uns zu Füßen. Es ist, als befänden wir uns auf dem Dach der Erde, am höchsten Punkt. Ich stehe direkt neben ihr, und wir schauen zusammen auf die Stadt. Es ist ein grandioser Ort, nahezu perfekt. Aber sie hat Angst, wir könnten uns verspäten und an der Rezeption Ärger bekommen. »Warum sehnen wir uns so danach? Es macht doch keinen Spaß, sich vor etwas zu gruseln«, sagt sie. Der Affe in der Poe-Geschichte wird erschossen, in seinem Versteck, in der konspirativen Wohnung, in die er geflüchtet ist. Er wird hingerichtet. Das Panorama, der Ausblick ist phantastisch. Judith sieht grandios aus. Aber es ist zu spät. Sie ist schon geschminkt. Ihre Haut ist von einer Patina überzogen, unsere Berührungen sind nur noch Blicke. Es ist nicht in Baltimore passiert. Tatsächlich muss ich ein ganzes Kalenderjahr weiter zurückgehen. Ich stehe mitten in der Unterhaltung mit Mads Christiansen auf. Er hat etwas Verletzendes, etwas Ungeheuerliches gesagt. Im Schatten des Rockefeller Centers unter der Erde, am tiefsten Ort unserer langjährigen Freundschaft. Sechs Monate zuvor, als ich mit Judith in dem Sportwagen ihrer Tante sitze und durch die Wüste fahre, denke ich noch, dass es uns beiden guttut, dass sie in Washington ist und dass das für unsere Beziehung wie ein Urlaub ist. Es sind nur noch ein paar Stationen bis Broadway Junction, wo ich umsteigen muss. Der Zug hält. Menschen mit verschwitzten Hemden und nassen Gesichtern sitzen mir gegenüber. Alle ignorieren die Zeit. Es ist der Tag nach Silvester. Ich erinnere mich an diesen Aufbruch, der beinahe etwas Kraftloses und Beiläufiges hat. Dabei hätte ich doch vor Freude außer mir sein müssen. Auf dem Weg in die Wüste. Noch jetzt, während ich mit geschlossenen Augen darum flehe, den Flug nicht zu verpassen, habe ich das Gefühl, dass wir noch immer unterwegs sind. Anza-Borrego Desert State Park. Primm. Das rote, brackige Wasser des Salton Sea. Wir rasen in eine leere, glühende Landschaft hinein, die unter uns verschwimmt und über uns von kristalliner Durchsichtigkeit und Weite ist. »Wie kann ich dorthin zurück?«, denke ich auf einmal, als der Zug wieder losfährt, »wie kann ich mich in dieser Leere verkriechen?« Ich liebe es, wenn Judith fährt, sie schaltet das Radio ein und singt. Sie bewegt sich zum Rhythmus eines alten Hits, eines Hits aus der Steinzeit der Musikgeschichte, eines uralten Heulers. Sie tanzt. Im Auto. Ich kenne niemanden, der so gut in einem Auto tanzen kann, das er gleichzeitig mit so großer Gelassenheit steuert. Der Tanz führt direkt in die Wüste, führt direkt in Judiths bronzefarbenes Gesicht. Ihr Profil ist klassisch schön, von einer antiken Gleichmäßigkeit, obwohl sie ja tanzt und singt, eine Rockröhre mimt und beim Refrain das kleine Radio im Auto ihrer Tante glatt in Grund und Boden singt. Ihr Profil ist eine Frage, eine große unbeantwortete Frage: »Wie kannst du so jemanden nicht lieben. Wie soll das überhaupt gehen?« Auf dem Weg in die Wüste. Die sechs Tage, die uns zur Verfügung stehen, die letzten Tage, an die ich mich jetzt mit aller Kraft zu erinnern versuche.
Teil Drei
1
Immer dann, wenn wir unterwegs sind, wenn wir ein Ziel vor Augen haben, verstehen wir uns am besten. Wir
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