Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)
sich nach einer Figur aus einer Erzählung von Kafka »Blumfeld«, und Judith und ich singen bei »Tausend Tränen tief« laut mit. Judith liebt das Lied. Sie programmiert den CD-Spieler so, dass wir es immer wieder hören können. Zu einer gelungenen Reise zweier Menschen, die sich lieben, gehört es, dass man darum kämpft, Orte zu finden und zu Orten zu gelangen, die in der Erinnerung später eine Rolle spielen und unvergesslich bleiben. »Möchtest du mal schauen?«, fragt Judith jedes Mal, wenn wir ein Vacancy-Schild sehen. »Nein, lass uns noch ein bisschen weiterfahren«, sage ich. »Es sieht irgendwie komisch aus.« Mir bleiben zwei Nächte in Erinnerung, wenn man die Rückfahrt nach San Diego nicht mitzählt. Die anderen Nächte, die wir irgendwo verbringen, in denen wir irgendwo übernachten, sind aus meiner Erinnerung mehr oder weniger schon wieder verschwunden und nicht mehr rekonstruierbar. Es sind die Nächte, die verloren gegangen sind.
Den Verdacht, dass ich diese Reise verkläre, habe ich von Anfang an. Ich denke immer, in Baltimore ist nichts passiert, Baltimore ist eine einzige Katastrophe, obwohl ich vorher noch gedacht habe, Baltimore sei in Wirklichkeit ein Neubeginn gewesen. Die Reise in der Wüste erscheint mir jetzt im Nachhinein als etwas ganz Besonderes, und ich möchte sie eigentlich lieber nicht in Frage stellen. Ich suche ein besonderes Detail, einen Ausdruck von Charme im Stil der Einrichtung, wenn ich mir die verschiedenen Hotelzimmer, Motels und Privatunterkünfte anschaue. In Julian hat eine Frau das Jugendzimmer ihres Sohnes in eine märchenhafte Traumlandschaft und die Zimmerdecke mit Tüchern und Diaprojektionen in einen Sternenhimmel verwandelt, auf den sie so stolz ist, dass wir, während wir das Zimmer besichtigen, die ganze Zeit nur zur Decke schauen. »Das ist genau das Richtige für ein junges Paar«, sagt sie. Wir schauen uns neun verschiedene Unterkünfte an. Zwei Motels, drei Hotels und vier Privatunterkünfte, bevor wir Julian wieder verlassen und in den Nachbarort fahren, um dann aber doch wieder zurückzukehren und in einem Hotel zu übernachten, das uns gar nicht gefällt. »Das ist wunderschön«, sage ich zu der Frau in Julian. »Und ich sehe, Sie haben hier sogar ein Himmelbett.« Judith setzt sich in den Wagen und wartet, bis ich den nächsten Versuch starte. Es ist eine besondere Fähigkeit von ihr, in schwierigen Situationen von einer auf die andere Sekunde absolut teilnahmslos und gefühllos zu werden. Sie zeigt keine Anzeichen von Erschöpfung. Wenn ich sie frage, ob alles in Ordnung ist, nickt sie nur. Am nächsten Morgen verlassen wir Julian und fahren auf dem direkten Weg zum Anza-Borrego Desert State Park. Man kann das Gaspedal in dem Camaro so einstellen, dass der Wagen automatisch Gas gibt und man überhaupt nichts mehr tun muss, außer zu lenken. Wir fahren, ohne anzuhalten. Wir wissen noch nicht, dass wir kurze Zeit später das schönste Hotel und damit den Höhepunkt unserer Reise schon erreicht haben.
Das Hotel liegt etwas abgelegen und ist nicht so leicht zu finden. An einigen Stellen ist der Weg nur noch eine Sandpiste. »Hier ist niemand«, sagt Judith, als wir über ein asphaltiertes Stück zwischen niedrigem Gestrüpp fahren. Aber dann taucht es plötzlich auf, wie ein aus dem Felsen herausgebrochenes Monument. Es ist ein flaches zweistöckiges Gebäude, von hochgewachsenen Palmen umgeben. Als wir uns nähern, erkennt man deutlich, dass es bewohnt ist. Es trägt einen ganz einfachen Namen. Es heißt The Palms. Es ist niemand da, keine Gäste, kein Personal, nicht einmal jemand am Empfangstresen. Für einen Moment vergessen wir die stundenlange Suche nach dem geeigneten Ort, die Agonie, in der wir die ganze Gegend abgefahren sind. Palm Canyon Drive, Borrego Valley Road, Henderson Canyon Road. Wir stehen an der Rezeption, kleine Stapel mit weißen Handtüchern liegen nebeneinander auf dem Empfangstresen. Ich sehe es in Judiths Augen, die Leichtigkeit und Beschwingtheit, mit der sie unser Zimmer in Beschlag nimmt. Die Lobby ist erleuchtet, und im Hintergrund läuft fast unhörbar etwas von Burt Bacharach. Wir sind allein, aber trotzdem scheint es, als wären bis vor wenigen Sekunden alle noch da gewesen. Das Einzige, was wir tun müssen, ist, eine Telefonnummer zu wählen und einer freundlichen Frauenstimme am anderen Ende unsere Kreditkartennummern durchzugeben, und schon können wir uns eine Suite zu besonders günstigen Konditionen
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