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Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Titel: Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Merkel
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ihre Zunge sei verrückt geworden, habe sich selbständig gemacht, und es sei ihr nicht mehr möglich, sie noch länger in ihrem Mund, zwischen ihren Lippen festzuhalten. »Tja«, sage ich und lache. Ich traue mich nicht, etwas zu sagen. Ich fürchte, ich könnte die latent erotische Stimmung gefährden, die mir aber gleichzeitig nicht ganz geheuer ist. Plötzlich bin ich hellwach. Erregt mich der Anblick der nackten Frauen, obwohl ich gar nicht hinschaue? Ich kann nicht sagen, dass mich der Anblick von Judith in diesem Moment erregt. Die Wüstenbewohnerinnen stecken sich gegenseitig die Hände, die Finger und die Zungen in den Mund. Im Grunde probieren sie alle Körperöffnungen und alle Extremitäten in ihren verschiedenen Kombinationen miteinander aus. Das ist gehobene Büroarbeit. In einer Szene fährt eine hagere, sonnengebräunte, wasserstoffblonde Wüstenfrau mit ihren zweifach beringten Zehen über die Klitoris einer auf der Couch liegenden anderen Frau, die die Beine mit beiden Händen so auseinanderspreizt, dass sie wie ein großer, ins Leere führender Brückenkopf über einer sich ihrer Scham nähernden dritten langhaarigen Frau schwebt. Das Kunstwerk, zu dem ich den Kommentar »na ja« oder »tja« wage, scheint Judith aber nicht weiter zu interessieren. Sie gibt keine Anzeichen von Anteilnahme oder Erregung von sich, obwohl ich mich zu erinnern glaube, dass sie im Widerschein dieser hellen, grell leuchtenden Bilder die Augen leicht zusammenkneift. Aber wo ist der Übergang? Wo ist der Moment, in dem Judith mich oder ich sie berühre?

    »Sie können jetzt mit Worten nichts mehr bewegen«, sage ich einmal zu Lambert. »Aber vielleicht sprechen wir mal über das, was in diesem Augenblick mit Ihnen passiert. Um was es da geht und was sich auf der Gefühlsebene abspielt.« Einer von uns beiden muss irgendwann die Bettdecke hochgezogen haben, sie liegt später nicht mehr auf dem Boden, und auch die Vorhänge sind zugezogen. Aber ich weiß nicht, wer von uns beiden das gewesen sein soll. Judith zieht die Vorhänge nie zu. Sie schläft am liebsten bei offenem Fenster. Lambert erzählt mir immer wieder dieselbe Geschichte in verschiedenen Varianten, wie ein professioneller Lügner, der sich an wenigen wahren Details festklammert und um sie herum sein Lügengebäude errichtet. Eine der Geschichten dreht sich um seinen Vater, wie er auf dem Parkplatz des örtlichen Tennisclubs vor seinem Wagen steht und zwischen den Plastiktüten im Kofferraum nach einer Packung Lübecker Marzipan sucht, die er seiner ehemaligen Landtagsreferentin schenken will. Den Tennisschläger unter dem Arm wartet sie neben dem Wagen, obwohl er doch mit seinem Sohn zum Tennisspielen verabredet ist. Lambert hat das schon mehrmals erzählt. Er erzählt, wie er sich vor Entsetzen und Abscheu abwenden und den Parkplatz verlassen und die Tennisstunde sogar ausfallen lassen muss, da er den Anblick seines Vaters nicht ertragen kann. Es geht immer wieder um die Plastiktüten, die den Niedergang versinnbildlichen und den Kofferraum, in dem sich das ganze Leben seines Vaters jetzt abspielt, seit er nicht mehr auf den Fahrdienst des Landtags zurückgreifen kann. Es ist nicht die Landtagsreferentin, mit der sein Vater eine Affäre gehabt hat, oder das Marzipan, das er ihr zum Geschenk machen will. Es sind die Plastiktüten, das Chaos der halbvollen, leeren und gebrauchten Tüten, die er in den Kofferraum gestopft hat. In den Abwandlungen und Verschiebungen erkennt man, wie Lambert sein Verhältnis zu seinem Vater in den Griff zu bekommen versucht. Sein Vater weiß noch nicht einmal, was sein Sohn überhaupt studiert. Einmal stellt er ihn als Jurastudenten vor, und dann wieder sagt er: »Er wird später mal Arzt, aber dann bin ich ja hoffentlich schon tot.« Lambert empfindet es als Demütigung, dass sein Vater gescheitert ist, will das aber auf keinen Fall zugeben. »Sie sind es doch, der mich anlügt«, schreit er. »Sie sind es doch, der mich betrügt. Sie tun immer so, als wären Sie für mich da. Aber jetzt interessiert es Sie nicht mehr. Es ist Ihnen doch scheißegal.« Es ist alles leere Rhetorik, aber man spürt den Leidensdruck, die Verzweiflung, die dahintersteckt. Ich biete ihm schließlich an, dass er nach draußen in den Innenhof gehen und ein bisschen frische Luft schnappen kann. Es ist ein Kompromiss. Vom Innenhof aus gibt es mehrere Ausgänge, und ich erkläre ihm, wie er am schnellsten durch das Gewirr der Gänge und Treppenhäuser nach

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