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Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition)

Titel: Lichtjahre entfernt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Merkel
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mit Bambus bepflanzt, und in der Mitte gibt es einen kleinen Teich. Der Garten eines Psychiaters. Ich komme erst später auf die Idee, eine Parallele zu ziehen und diesen Garten mit dem Innenhof in meiner Praxis zu vergleichen. Ein Gefühl großen Friedens erfasst mich. Niemand ist zu sehen, aber der Schnauzbärtige, der hinter mir steht, sagt: »Wir amüsieren uns alle. Warum machst du dir nicht einen Drink?« Er zeigt auf einen kleinen Glastisch neben einer Sitzgruppe, in der niemand sitzt. Mehrere Flaschen stehen auf dem Boden. In einer großen Porzellanschale liegen Eiswürfel, einige von ihnen schon halb geschmolzen. Ich setze mich in einen der Rattansessel, die mit weißen Polstern ausgelegt sind, unschlüssig, was ich tun soll und was das heißt. »Wir amüsieren uns alle.« Der Schnauzbärtige ist ins Haus gegangen. Es weht ein leichter Wind, der aber kaum Abkühlung bringt.

    »Bist du wach?« Er schaltet seine Taschenlampe ein und leuchtet mir ins Gesicht. In Queens nehme ich ein Taxi. Am frühen Morgen, als es schon dämmert. Ich suche den Schnauzbärtigen im ganzen Haus und bin froh, als ich ihn schließlich allein in der Küche finde, wo er ein Glas frisch gepressten Orangensaft trinkt. Zum Telefonieren gehen wir wieder nach unten ins Schlafzimmer. Es ist das Zimmer, in dem er seine Jugend verbracht hat, erklärt er mir. Seine eigene Wohnung ist in einem anderen Stadtteil und viel größer, aber sie hat keinen Garten. Man sieht nichts von dem Geld, den Ergebnissen seiner Arbeit in der Investmentbank, deren Namen wie der einer berühmten Schauspielerin klingt. Zwischen den Anpflanzungen, den Erdklumpen am Rande des kleinen Bambuswäldchens, wo gerade etwas umgegraben wird, ist nichts zu erkennen. Er trägt ein weißes Hemd, khakifarbene Arbeitshosen und Sandalen, bei denen die Lederriemen bis zum Unterschenkel reichen. »Man weiß nie, was passiert«, sagt er. »Wenn man am Ende des Jahres keinen Bonus bekommt, kann man es gleich vergessen. Dann ist man am Ende.« Ich bleibe eine Stunde. Aber mehr aus Höflichkeit. Als ich in dem Rattansessel im Garten sitze, sehe ich auf einmal eine kleine Katze, die auf einem schmalen hölzernen Steg in das Dickicht der Bambusstangen hineinläuft, und stehe, magisch angezogen, auf und folge dem Tier. Noch immer weiß Judith nichts vom Schicksal unserer Katze. Ich habe ihr nichts erzählt. »Sobald du den Kreis betrittst«, erkläre ich Lambert in meinem Traum, »hast du schon eine Entscheidung getroffen. Du musst dir das wirklich als Kreis vorstellen. Es ist eine Zone, die du selbst definierst«, sage ich, nachdem die Versöhnung mit seinem Vater jetzt feststeht. »Der Kreis, einmal gezogen, schützt das, was sich in ihm, aber auch das, was sich außerhalb von ihm befindet. Aber vielleicht fangen wir einfach einmal damit an, dass du mir etwas von deinem Vater erzählst. Du hast gesagt, er sei ein begeisterter Tennisspieler?« Der Traum ist zirkulär und fängt nach einer Weile wieder von vorne an. Schließlich bricht er irgendwann einfach ab und hört auf. Die Anstrengungen sind noch immer zu spüren, als wären meine Glieder und mein ganzer Körper durchgeschüttelt worden, als hätte jemand versucht, mich auseinanderzureißen. Ich rede auf diese Frau ein, mit Engelszungen, mit aller Kraft, die mir noch zur Verfügung steht. Mir kommt es so vor, als würde ich meinen Kopf nehmen und ihn vor ihr auf den Tresen des Schalters legen und sagen: »Hier. Jetzt schauen Sie sich das an. Das ist nämlich mein Ticket.« Ich folge der Katze. Ich laufe ihr hinterher. Sie bleibt ein paar Meter weiter zwischen den Bambusstangen am Rand des hölzernen Stegs stehen und schmiegt sich gegen die im Wind leicht hin- und herwogenden Gräser. Bambus, hat mir Mads Christiansen einmal erzählt, ist eine besondere Pflanze, die auch in seinem Buch vorkommt. Bambus ist die einzige Pflanze auf der ganzen Welt, die pro Tag bis zu einem Meter wachsen kann. In Hiroshima war Bambus nach der Atombombenexplosion die erste Pflanze, die sich auf den kontaminierten Arealen der Stadt wieder ausgebreitet hat. Die »Transferfrage« bei Bambus lautet: »Wann bin ich flexibel? Verbiege ich mich zu viel? Mute ich mir und meinem Unternehmen zu viel zu? Verliere ich meine Identität?« Die Katze huscht in das Gras unter dem Holzsteg. In dem Moment sehe ich die beiden Männer auf einem freien Platz ein paar Meter entfernt. Zwei Windlichter stehen auf Holzpfosten, und ich erkenne das Barett von Mads Christiansens

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