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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Pennsylvanias trug ihr Vater bereits die Anarchie der Zellen in sich, die sich durch einen steten Husten und Rückenschmerzen ankündigte. Dreißig Jahre lang drei Päckchen am Tag; er hustete, als er es zugab. Er mußte etwas dagegen tun, beschloß er.
    »Wir machen eine paar Röntgenaufnahmen«, hatte der Arzt gesagt. »Nur um sicher zu gehen.«
    Keiner von ihnen war da, als die Negative vor die Lichtwand gesteckt und zurechtgerückt wurden wie verrutschte Laken und man in der gespenstischen Dunkelheit die tödliche Masse erkennen konnte, wie Astronomen einen Kometen erkennen.
    Der Arzt wurde hereingerufen; es bedurfte nur eines Blicks.
    »Ja, das ist er, kein Zweifel«, sagte er.
    Die normale Prognose lautete achtzehn Monate, aber mit den neuen Apparaten drei Jahre, manchmal sogar vier. Sie sagten ihm natürlich nichts davon. Sein durchsichtiges Schicksal hing klar an der Wand, während weitere Röntgenaufnahmen, in Gruppen zu jeweils sechs Bildern, von zwei Spezialisten gesichtet wurden, die nebeneinander an verschiedenen Fällen arbeiteten, ruhig wie Piloten, und diktierten, was sie sahen, Stapel abgegriffener Umschläge an ihren Ellbogen. Ihre Sprache war treffend, exakt. Sie zitierten, sie besprachen sich, sie hielten an einem Urteil fest, lange nachdem Lionel Carnes im Alter von vierundsechzig Jahren seine Besuche im Behandlungsraum aufgenommen hatte. Ihre Arbeit hörte nie auf. Vor ihnen schwebten Schädel, innere Organe, die Galaxien von Brüsten, Finger, Fadenbrüche, Knie, die in unendlichen Testreihen auftauchten und verschwanden, während die beiden in stetiger monotoner Stimme Antworten auswarfen.
    Sarkom, sagten sie. Nun, es gibt alle möglichen Sarkome, es gibt Muskelsarkome, sogar Herzsarkome, aber die sind sehr selten, gewöhnlich sind sie die Folge von Metastasen. Niemand weiß genau, warum das Herz heilig und unantastbar ist, sagen sie.
    Die Betamaschine gab ein schreckenerregendes Heulen von sich. Der Patient lag allein, verlassen, in einem versiegelten Raum mit Klimaanlage. Es wurde sonst zu heiß. Die Dosierung wurde unter Berücksichtigung von Größe, Gewicht und anderen Faktoren von einem entfernt stehenden Computer festgelegt. Bei der Beta verbrennt die Haut nicht so wie bei den Maschinen mit geringerer Energie, erklärten sie ihm. »Nein, nur alles andere«, sagte er.
    Da hing sie, stumm, mächtig, und schoß Strahlen herab, die das Zellgewebe wie Eierschalen zerbrachen. Der Patient lag darunter, unbeweglich, zurechtgelegt. Mit dem Schrei des Unsichtbaren begann sie ihre Arbeit. Entweder das oder eine Totaloperation, radikal und hoffnungslos, bei der das Blut von den schwarzen Nähten rann und der verurteilte Mann angerichtet wurde wie ein Schweinebraten. Die Macht und Herrlichkeit moderner Technologie richteten sich einen Moment lang auf ihn, die Krankenschwestern scherzten mit ihm, die jungen Ärzte nannten ihn beim Vornamen.
    »Sterb ich schon?« fragte er sie.
    »Nein, noch nicht«, sagten sie.
    Er erzählte ihnen von Autos, von seinem dreibeinigen Kater.
    »Er hat nur drei Beine?«
    »Er heißt Ernie«, sagte er.
    »Ernie heißt er!«
    »Ja. Er ist schwarz. Er hat viel Spaß am Leben, der alte Ernie. Er klettert auf Bäume und fängt Vögel. Aber sobald er mich sieht, fängt er an zu humpeln«, sagte er.
    Sie waren überall in seinen Zellen, die Tabakflecken, die dunklen Schatten. Er mußte das Rauchen aufgeben.
    »Sterben ist nichts dagegen.«

    Ostersonntag. Der Morgen war wunderschön, die Bäume voller Sonne. Die Verns kamen heraus, Larry und Rae. Als sie auf ihrem Motorrad die Einfahrt hochfuhren, sahen sie wie ein junges Arbeiterpärchen aus. Sie saß hinter ihm, die Arme um seine Taille gelegt. Er trug einen weißen irischen Pullover, der Wind hatte sein Haar zerzaust. Die Kinder Hefen ihnen entgegen. Sie liebten die Maschine, die lackiert und glänzend war. Sie mochten seinen Bart.
    »Ihr kommt gerade rechtzeitig zum Eierverstecken«, sagte Nedra zu Larry.
    »Gut. Und wer ist das?«
    Es war Viri, der einen Hut mit zwei abstehenden Ohren aufhatte, in der Hand hielt er einen Korb mit Eiern.
    »Kommt rein und wärmt euch auf«, sagte er. »Ist euch kalt?« In der Küche war der Tisch gedeckt: Kulitsch, russisches Ostergebäck, große Stücke Feto, dunkles Brot und Butter, Obst. Nedra goß Tee ein. Ihr Wesen zeigte sich in der Großzügigkeit ihrer Tafel. »Eve kommt auch«, sagte sie.
    »Oh, schön«, sagte Rae.
    »Und die Paums, kennst du ihn?«
    »Ich glaube nicht.«
    »Er ist

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