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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Ihr Gesicht war klar, fast strahlend. Sie war nicht wie die anderen. Sie lächelte, sie schloß Freundschaften, am Abend verschwand sie. Das Heilige ist immer unnahbar.
    Die Straßen draußen glühten, die Luft war drückend, schwer wie Planken. Eine Stadt ohne Bäume, ohne einen einzigen grünen Brunnen, selbst die Flüsse konnte man aus ihrer Mitte nicht sehen, nicht einmal den Himmel. Sie fand sie aufregend, ihre Menschenmengen, die Stimmen, die Köpfe, die sich nach ihr umdrehten. Sie redete mit den Autoren, die ins Büro kamen, und brachte ihnen Tee. Nile war einer von ihnen.
    Seine Kleidung war wie die eines Mannes, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war - oder eher die von zwei Männern, da nichts zusammenpaßte. Sein Hemd war aus einem Army-Surplus-Laden, seine Krawatte saß locker. Er hatte das Selbstvertrauen, die aufgesprungenen Lippen eines Menschen, der fest entschlossen ist, ohne Geld zu leben. Er war jemand, der bei jedem Vorstellungsgespräch durchfallen würde.
    »Wie haben Sie den Job hier bekommmen?« fragte er. Er hatte ein Buch aufgenommen und blätterte darin.
    »Wie? Ich hab mich einfach beworben.«
    »Sie haben sich beworben«, sagte er. »Komisch, wenn ich mich bewerb...« Seine Stimme verlor sich. »Sie stellen einem normalerweise eine Menge Fragen. Bei Ihnen auch?«
    »Nein.«
    »Natürlich nicht.«
    »Sie können doch bestimmt alle Fragen beantworten.«
    »So leicht ist das nicht«, sagte er. »Ich mein, man weiß nie, worauf sie hinauswollen. Sie fragen einen: Mögen Sie Musik? Was für Musik? Also, ich mag Beethoven, Mozart. Beethoven, aha. Mozart. Und lesen, lesen Sie gerne? Was für Bücher lesen Sie? Shakespeare. Ah, Shakespeare, sagt er. Und dann notiert er - man kann es nicht sehen, der Aktendeckel ist hochgeklappt: Er redet nur von Toten.« Er blätterte in den Seiten, als suchte er etwas. »Kennen Sie die Geschichte von dem Kannibalen?«
    »Nein.«
    »Er sagt zu seiner Mutter: Ich mag keine Missionare. Und sie sagt: Liebling, dann iß nur dein Gemüse.« Er blätterte weiter.
    »Ist das eins von euern Büchern? Ich mein, verlegt ihr es?«
    Sie sah es sich an.
    »Es ist bedeutungslos«, sagte er. »Ich erzähl Ihnen mal was. Eine Unterhaltung, die ich mit einem Freund hatte, kein Witz. Wir redeten über ein Pärchen, das ein Kind bekommen hatte. Er sagte: Wie werden sie's nennen? Ich sagte: Carson. Carson, sagte er. Junge oder Mädchen? Ein Junge, sagte ich. Ach, sagte er, das ist ja interessant, sie nennen das Kid Carson... Na ja, ich hab ja gesagt, daß es kein Witz ist. Nur eine... Wissen Sie vielleicht, was mit mir los ist?« unterbrach er sich. »Irgendwie hab ich das Verlangen, mit Ihnen zureden.«
    Er war klug, er war hilflos. Seine Storys wurden gerade im Transatlantic Review veröffentlicht. Er war der Sohn einer Frau, die als Psychologin arbeitete und seit seinem dritten Lebensjahr geschieden war. Sie machte sich keine Illusionen über ihren Sohn: seine größte Angst war, Erfolg zu haben, aber man mußte ihn schon sehr gut kennen, um das zu verstehen. Er machte einen schwachen Eindruck, den einer selbstgewählten Schwäche wie bei bestimmten undefinierbaren Krankheiten. Aber nach einer Weile wollen diese Krankheiten anerkannt werden, sie bestehen darauf, als echtes Leiden behandelt zu werden, sie werden eins mit ihrem Besitzer.
    Er wußte alles; sein Wissen war immens. Er war wie ein Student, der das Studium verachtet, aber alle Prüfungen besteht. Er hatte dunkle Augen, ein verwaschenes Braun wie bei einem Schwarzen. Seine Manschetten waren schmutzig. Viele seiner Sätze begannen mit einem Namen.
    »Gödel war in Princeton«, sagte er. »Er ging einen Korridor runter, offensichtlich in Gedanken, und ein Student kam ihm entgegen und sagte: ›Guten Morgen, Dr. Gödel.‹ Gödel sah auf und sagte: ›Gödel! Genau, das ist es!‹«
    Bei ihrem ersten gemeinsamen Essen fragte er sie in aller Ruhe aus, und sie erzählte von ihrem Haus auf dem Land. »Ah«, sagte er. »Ich wußte es. Ich wußte, daß Sie so ein Haus haben.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Ich hab es mir vorgestellt. Ein großes Haus, oder? Wo genau liegt es? Nah am Fluß?«
    »Ja.«
    »Ziemlich nah«, vermutete er. »Ja, ziemlich.«
    »So nah, wie man es von einem solchen Haus erwarten würde.«
    »Ja«, sagte sie. »Genau so nah.«
    Er war begeistert. »Und es gibt Bäume.«
    »Mit lauter Vögeln darin«, sagte sie.
    »Das ist bedeutungslos«, rief er aus.
    »Warum?«
    »Ihr Leben«, sagte er.

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