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Lichtjahreweit

Lichtjahreweit

Titel: Lichtjahreweit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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vergewissern, daß das Land noch immer bewohnt war und die Eisenmänner ihr zeitloses Exil noch nicht aufgegeben hatten, zum Verderben der Erde und der Menschen. Geduldig lauschte die Stadt Than Mayens Klagen und Anklagen, horchte mit Türöffnungen wie Ohren und betrachtete ihn mit Fensterhöhlen wie Augen.
    »Das Leben tötet mich«, wiederholte Than Mayen, mit beiden Händen auf die Fensterbank gestützt, den rechten Beinstumpf gegen die Marmorwand gepreßt, als wollte er sich durch die Festigkeit der Wand die Illusion der Unversehrtheit erkaufen, während das linke Bein gebräunt und kräftig wie stets seinen Rumpf trug. »Und oft frage ich mich«, sagte Than Mayen und sah der Nacht ins kalte Gesicht, »oft frage ich mich, was habe ich getan, daß ich so bestraft worden bin? Was habe ich dem Leben angetan, daß es mich mit solcher Grausamkeit zurückweist und kein Erbarmen kennt außer dem zweifelhaften Erbarmen des Alters, das mit dem Fortschreiten der Jahre alle Spuren verwischen wird? Ich habe dem Leben alles gegeben und ich habe für das Leben alles getan, aber dies scheint nicht genug gewesen zu sein, sondern zu wenig. Es war zu wenig, viel zu wenig, und die Dürftigkeit meiner Geschenke hat das Leben erzürnt und es dazu gebracht, mir einen Teil von dem wieder zu nehmen, was es mir einst gebracht hat. Ich habe versagt«, erklärte Than Mayen der geduldig lauschenden Stadt. »Das ist die Antwort: Ich habe versagt.«
    Er wandte sich ab, groß wie er war, einbeinig wie er war, stemmte die Krücken in die Achselhöhlen und humpelte zu seinem unberührten Lager.
    Than Mayen war allein.
    Das Haus auf dem höchsten der tausend Hügel von Hai Zun war verlassen. Die Dienstboten waren fort. Die Freunde waren geflohen. Die Ärzte und Heiler besuchten ihn schon lange nicht mehr. Nur noch die Stadt hörte Than Mayen zu, weil sie aus Marmor bestand, und weil der Marmor nicht die wahre Bedeutung seiner Worte begreifen konnte. Worte, die jahrein, jahraus über seine Lippen drangen und im Lauf der Zeit immer weniger Ohren gefunden hatten, bis die einzigen Ohren die Türen von Hai Zun waren.
    Zu Beginn waren die Ärzte und Kräutermänner, die Handaufleger und die Fürsprecher zu ihm gekommen, um die schwärende Wunde zu behandeln, in die sich sein rechtes Bein verwandelt hatte. Von einem Tag zum anderen verwandelt hatte. Und niemand wußte die Ursache zu deuten. Und die Wunde wollte nicht heilen, und sie fraß sich immer tiefer, durch Gewebe, Sehnen und Blutgefäße bis zum Knochen und dann höher hinauf, dem Rumpf entgegen, so daß niemand mehr verantworten konnte, das Warten weiter auszudehnen, und so hatten sie es getan. Ihm das Bein abgenommen. Es ihm einfach abgenommen und nur diesen vernarbten Stumpf übriggelassen. Um ihm das Leben zu retten. »Das Leben!« schnaubte Than Mayen verächtlich. »Das Leben!«
    Nachtwind rauschte um die Giebel und Firste der Stadt, als ob der Wind dem Mann auf dem hohen Hügel Trost spenden wollte, und der Nachtwind schien nicht zu ahnen, daß es für Than Mayen keinen Trost gab, und nie Trost gegeben hatte.
    Dann waren die Freunde zu ihm gekommen, die Freunde und Vertrauten, um in der ersten schweren Zeit an seiner Seite zu stehen, wo Than Mayen doch nur auf Krücken stehen konnte, und er hatte ihnen gesagt, was das Leben ihm angetan hatte, ausgerechnet ihm, der doch nichts als das Leben liebte. Und er hatte ihnen gesagt, wie schmählich ihn die Gesundheit hintergangen hatte, obwohl seine Verehrung nur der Gesundheit galt, und er hatte ihnen zugeflüstert, was ihm die Vollkommenheit zugefügt hatte, daß sie ihm das Herz gebrochen und den Verstand geraubt hatte, und Than Mayen hatte es ihnen immer und immer wieder gesagt, so daß seine Freunde nach und nach fortgeblieben waren, und bald keiner mehr zu ihm kam.
    Verlassen in seinem hohen Haus, verrückt vor Schmerz und Enttäuschung, waren Than Mayen nur noch die Dienstboten geblieben, denen er vom schauerlichen Verrat des Lebens an seinem treuesten Liebhaber erzählen konnte, und er hatte ihnen diese Geschichte tagein, tagaus erzählt, mit den immer gleichen Worten, mit ungemilderter Verzweiflung, bis sich die Dienstboten eines Nachts davongestohlen und ihn endgültig alleingelassen hatten.
    Seitdem sprach Than Mayen mit der Stadt.
    Und die Stadt hörte ihm zu.
    »Das Leben«, murmelte Than Mayen lang ausgestreckt auf seinem Lager ruhend, die Krücken neben dem Bett auf dem Boden liegend, den Beinstumpf unbedeckt und im Licht der

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