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Lichtjahreweit

Lichtjahreweit

Titel: Lichtjahreweit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Glühwurmlüster rot wie Blut, »das Leben ist eine Hure. Jetzt habe ich es erkannt. Jetzt, wo es zu spät ist. Das Leben ist eine Hure und die Gesundheit ist ihr Zuhälter, und die Vollkommenheit ist ihr heimlicher Geliebter. Nur die Vollkommenheit. Wie kann ein Mensch auch hoffen, sich mit der Vollkommenheit messen zu können! Das ist die verborgene Wahrheit – man kann mit dem Leben schlafen, man kann es gebrauchen, wie man den Körper einer Dirne gebraucht, aber man kann nicht die Liebe des Lebens gewinnen. Wenn man es versucht, haßt es dich. Es weist dich zurück, verfolgt dich, straft dich, vernichtet dich. So wie es mich vernichtet hat.«
    Sie Stadt hörte ihm zu.
    Der Eisenring glitzerte am Himmel.
    Und am Horizont wetterleuchtete das Nordlicht. Am Horizont, über dem Glaspol.
    »Es gibt keine Rettung«, sagte Than Mayen zum hundertsten, zum tausendsten Mal. »Es gibt keine Rettung, und dabei brauchen wir Menschen die Hoffnung auf Rettung, aber alles, was wir erwarten können, das sind der zweifelhafte Trost des Alters und die unerbetene Hilfe des Todes. Daran sollten wir denken, wenn wir so närrisch werden und zum Leben in Liebe entflammen, statt es zu benutzen, wie es verdient, benutzt zu werden, statt es zu gebrauchen wie ein Ding, eine Sache, denn das ist es, ein Ding, nicht mehr und nicht weniger. Wer dies nicht weiß, wer dies nicht einsieht, der wird rasch zur Einsicht gebracht, der wird gebrochen und verstoßen, achtlos fortgeworfen. Und es tut weh, fortgeworfen zu werden. Es schmerzt im Kopf und in den Gliedern und es gibt nichts auf der Welt, das diesen Schmerz heilen kann. Und mich tötet das Leben. Zuerst hat es mich zerschnitten, und jetzt tötet es mich. Der Tod, der Bruder der Hure Leben, dieser eisgekühlte Strichjunge wartet schon. Er wird nicht mehr lange warten müssen.«
    Die Stadt kannte Than Mayens Worte. Sie hörte sie jede Nacht, jeden Tag, jede Stunde. Sie sagte nichts. Sie antwortete niemals. Sie lauschte, und sie äugte hinauf zum höchsten Hügel von Hai Zun, zu dem Haus, in dem das Licht der Glühwürmer niemals erlosch.
    »Das Leben spielt mit mir«, raunte Than Mayen in die Stille seiner Schlafkammer, die er nicht mehr zum Schlafen nutzte, weil er die Täuschung des Schlafes durchschaut, und in ihm nur eine schlechte Maske des Todes erkannt hatte. »Das Leben treibt Schabernack mit mir, üble Scherze, bei denen das Lachen in der Kehle erstickt. Es spielt grausame Spiele, ersinnt sonderbare, verschrobene Streiche, und auf jeden Scherz folgt ein neuer Scherz, und jeder faule Witz wird mit einem weiteren faulen Witz gekrönt, und jede Posse wird durch eine noch ärgere Posse weitergetrieben. Die Komik des Lebens ist die Tragik von uns Menschen, weil nur wenige von uns, die verdammten der Menschheit, das Zeichen sehen, das alle auf der Stirn tragen: Es gibt keine Rettung.«
    Und wenn doch, sagte die Stadt und ergriff damit zum ersten Mal seit Jahrtausenden das Wort, und wenn doch, dann ist die Rettung eine Täuschung.
    Die Stadt sprach, weil ein Gespenst ihr Straßenpflaster betreten hatte.
    Ein Gespenst.
    Calhan von Nyanderhen.

 
VIII
     
    Calhan betrat des Nachts die Stadt Hai Zun im Land Mirsingval. Im Licht des Eisenrings, der Sterne, des Wetterleuchtens über dem Glaspol. Er trug das rechte Bein der Lady Lyzis geschultert, und er knurrte und fluchte, wenn es zu zucken und zu treten begann, und ihm durch Knüffe zu verstehen gab, wie wenig es doch die Tatsache schätzte, rumpflos durch das Land getragen zu werden.
    Calhan betrat die Stadt durch das Osttor, einem winzig wirkenden Halbrund im titanisch aufgetürmten Gestein der zinnenbewehrten Wälle mit ihren Türmen und Brustwehren, ihren Laufgängen und Schießscharten, die schon seit Äonen bestanden, und die aus Furcht vor einer baldigen Wiederkehr der Eisenmänner errichtet worden waren. Das Tor war bewacht und verschlossen, aber für Calhan öffnete es sich, ohne daß er anklopfen und um Einlaß bitten mußte, und die Wächter traten zur Seite und blickten ins Leere, so daß Calhan unbehelligt an ihnen vorbeischreiten konnte, die Allee entlang, die die Niederungen zwischen den Hügeln von Hai Zun zerschnitt. Bäume mit knorrigen Stämmen, weiß wie Mehl, und mit weit ausladenden Kronen, grau und braun, grün und blau wie die Farben menschlicher Augen, säumten die Allee; schmalere Straßen zweigten von ihr ab und erkletterten die Hügel, um sich wiederum zu verzweigen und zu verengen und vor den Pforten der

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