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Lichtjahreweit

Lichtjahreweit

Titel: Lichtjahreweit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Verwünschungen lachte er, um Lyzis zu zeigen, was ein richtiges Gelächter war, um sie daran zu erinnern, daß wahre Fröhlichkeit dem Grauen entsprang und ehrliche Heiterkeit nach dem lüsternen Schauder des Todes verlangte. Dann hatte Calhan Lyzis erreicht und er schlug ihr den angenagten Männerfuß aus der rechten Hand und den Becher voll mit warmem Blut aus der linken Hand, packte ihr kohlrabenschwarzes Haar und schleuderte sie zu Boden, warf sie lang auf die befleckten Fliesen ihrer zu Staub zerfallenen Speisekammer. Mit dem Zeigefinger wies er auf ihr rechtes Bein. Wortlos, befehlend deutete er mit dem Finger auf jene Stelle, wo die samtene Haut des Oberschenkels in die schlaffe Ranzigkeit der Leiste überging. Er tat genau das, was ihm die Gehirne aufgetragen hatten, und durch die Macht der Gehirne löste sich das Bein vom Rumpf, und das Bein blutete nicht.
    Es blutete nicht.
    Die Venen und Adern, die durchtrennten Blutgefäße schlossen sich und sogleich wuchs frische Haut über die Wunden. Calhan hob das Bein auf, schulterte es und ging ohne ein weiteres Wort davon.
    Zurück blieb Lyzis.
    Sie schwieg noch immer.
    Vielleicht für immer.
    Denn der Rauch lichtete sich, als der Zustrom aus dem wasserlosen Brunnen versiegte, der Rauch verflog mit den Winden, die über die Dächer und durch die Treppenstraßen und die schwarzen Gassen von Qu’ail fauchten, und das Kirschlicht des Tages kroch in die Ritzen der Gemäuer, durch die Risse in den Wänden, die Spalten in den Firsten, äugte glutvoll in jede Nische und in die erloschenen Augenhöhlen der blinden Menschen, die nicht sehen konnten, wie sich in diesem Augenblick die letzten Regenwolken auflösten und den dünnen, glitzernden Streif des Eisenrings entblößten, der sich wie ein Gürtel über den Himmel spannte.

 
VI
     
    Und wer war Mayen?
    Wer war dieser Than Mayen aus der Stadt Hai Zun im Land Mirsingval?
    Und was hatte er getan, daß ihn die Gehirne mit einem solchen Haß verfolgten, und ihm eine derartige Strafe auferlegten, die ohne Beispiel war in der entsetzensreichen Geschichte der Erde? Was hatte er getan?
    Gute Dinge.
    Wundervolle Dinge.
    Er war ein Feldherr, ein Kriegsherr, ein Stratege und Taktiker, ein General in einem schmutzigen Krieg, den die Menschen von Mirsingval gegen die zahllosen Feinde des Landes kämpften. Er führte seine Heere in lautlose Schlachten, die mit abgekochtem Wasser und mit der Heilkraft der Kräuter und mit der segensreichen Wirkung seltsamer Pulver ausgetragen wurden. Unter seiner Führung stritten die Menschen von Mirsingval in jahrelangen Feldzügen gegen Pest und Fäule, Wundstarrkrampf und Fieber, Bleichsucht und Pocken, gegen die Raserei der sonderbaren Krankheiten, die mit den Nachtmahren von den Sternen gekommen waren, und gegen die bösen Einflüsterungen der Seelenseuchen, jener furchtbaren Hinterlassenschaft der Eisenmänner, die die Menschen immer daran erinnern sollten, daß ihre Macht über die Erde nur geliehen war und unweigerlich eines fernen Tages zu Ende gehen würde.
    Than Mayen und seine Armeen rangen sogar gegen den Tod, gegen den gnadenlosesten von allen Feinden des Lebens, und obwohl sie ihn nicht völlig bezwungen hatten, war es ihnen doch gelungen, ihn um Jahre und Jahrzehnte zurückzudrängen und die Jungen und die Schwachen vor dem Zugriff seiner kalten Hände zu bewahren.
    Seit Than Mayen die Menschen von Mirsingval die wahre, die gerechte Kriegskunst gelehrt hatte, fiel die Ernte des Todes mager aus in Hai Zun und in den anderen Städten an der Küste des Polmeeres, und selbst wenn er unerkannt kam und die Wehr überwand, und ein Opfer heimholte in sein Land aus purem Eis und Schweigen, mußte er sich davonschleichen wie ein Dieb in der Nacht, wollte er verhindern, daß man ihm im letzten Moment die magerere Beute wieder entriß.
    Vielleicht war dies Than Mayens Fehler gewesen.
    Vielleicht hatte er sich den Zorn des Todes zugezogen und der Tod trachtete nun danach, ihm seine Taten zu vergelten.
    Aber vielleicht war Than Mayens Feind nicht der Tod; sondern der Wahnsinn, der irdische Bruder der Nachtmahre, das Stiefkind der Eisenmänner, die Fäulnis der Gedanken und Gefühle, gegen die Mayen mit der gleichen Entschlossenheit wie gegen den Tod in den Kampf gezogen war – bewaffnet mit der Wärme seiner Augen, mit der Güte seiner Stimme und mit der Klugheit seines Geistes.
    Doch ganz gleich, wer Than Mayens Feind wirklich war, er hatte in den Gehirnen und in ihrer maßlosen Rachsucht

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