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Lichtjahreweit

Lichtjahreweit

Titel: Lichtjahreweit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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Zun, und es besaß ein Zuckerhutdach und einen stützenden Ring aus ziselierten Säulen und dazwischen Wände, die so dünn waren, daß das Licht der Glühwurmlüster wie durch Pergament hindurchschimmerte.
    Der Eingang besaß keine Tür.
    Than Mayen hatte schon vor langer Zeit die Platinpforte entfernt, in der Hoffnung, daß die Leute von Hai Zun seine wortlose Bitte verstehen, und die weite Öffnung seines Hauses mit ihren Besuchen honorieren würden. Doch der erste Besucher seit jenem fernen Tag war Calhan.
    Ausgerechnet Calhan.
    Mit Lyzis’ Bein im Arm schritt er über die Schwelle und durch den kurzen Flur und geradewegs in Than Mayens Schlafgemach.
    »Es gibt keine Rettung«, sagte Than Mayen wieder, als Calhan die Schlafkammer betrat.
    »Die Rettung ist hier«, sagte Calhan böse, und er hob das Bein, hob es mit beiden Händen hoch in die Luft und zeigte es seinem Opfer, seiner Beute, dem Mann, den er verderben wollte, weil ihm die Gehirne befohlen hatten, Than Mayen zu verderben.
    »Ein Bein!« rief Than Mayen. Und er verstummte dann. Jahrelang hatte er sich dem Ritual der Wiederholung, des Echos, des Kreises hingegeben und jetzt, wo das Leben sich einen neuen Scherz mit ihm erlaubte, fiel es ihm schwer an andere Worte zu denken, als an die ihm so vertrauten.
    »Ein Bein«, bestätigte Calhan mit seinem Lächeln, das kein Lächeln war. »Ein rechtes Bein. Das rechte Bein der Lady Lyzis. Es lebt! Es braucht einen Rumpf.«
    »Ein Frauenbein«, sagte Than Mayen. Die Hoffnung, die für einen Moment in seinen Augen aufgeglommen war, erlosch wieder. »Nur ein Frauenbein.«
    »Es lebt«, wiederholte Calhan und die Macht der Gehirne offenbarte sich ein neues Mal, als er an Than Mayens Lager trat, und der Einbeinige keinen Einwand erhob, sondern vertrauensvoll in Calhans faltiges, verdrossenes Gesicht schaute. »Es lebt und es kann angepaßt werden. Es weigert sich nicht, wenn ich es ihm befehle. Es ist ein gehorsames Bein, und es ist dein, wenn du willst.«
    »Ein Frauenbein«, sagte Than Mayen dumpf. »Dies ist grausam, Fremder.«
    »Calhan«, sagte Calhan.
    »Dies ist grausam, Calhan«, rief Than Mayen. »Du bringst mir Hoffnung, die keine Hoffnung ist, sondern nackte Enttäuschung, und du bringst mir Erlösung, die eine andere Form der Verdammnis ist.«
    Wie recht du hast, dachte Calhan verschlagen. Wie wundervoll recht du hast, du guter Mann, du warmherziger Mensch, du armer Tropf. »Das Bein wird dein«, raunte er lockend, bückte sich und packte Mayens Hüfte. »Es wird das, was du bist, es wird eins mit deinem Fleisch.« Während er mit der einen Hand Than Mayen festhielt, zog er mit der anderen Lyzis’ Bein zum vernarbten Beinstumpf des Mannes, und preßte es dagegen.
    Than Mayen schrie.
    Er atmete zischend.
    Seine Augen wurden groß.
    Das Bein war mit dem Stumpf verwachsen, und es gab keine Narben mehr, und er konnte es bewegen, wie er sein altes Bein hatte bewegen können, und es gehorchte ihm, es gehörte ihm, es war sein, wie Calhan es versprochen hatte. »Aber es ist ein Frauenbein!« sagte Than Mayen entsetzt, und er starrte die samtene, weibliche Bräune von Lyzis’ Bein an und dann die behaarte, muskulöse, männliche Kräftigkeit seines eigenen, linken Beines.
    »Es ist noch ein Frauenbein«, berichtigte Calhan mit einer steilen Unmutsfalte auf der Stirn und mit verzückter Häme im Herzen. »Es kann sich verändern.«
    »Wie?« fragte Than Mayen.
    » Wo«, korrigierte Calhan. »Am Glaspol. Im Quarzfjord. Dort gibt es einen Ort, an dem sich Beine verändern können. Vor allem dieses Bein.« Er nickte dazu, und aus seinem Nicken sprach die unwiderstehliche Überzeugungskraft der Gehirne, die lediglich die Gedanken der Menschen ein wenig verdrehen mußten, um zu gewinnen, und Than Mayen war zu tief in seinen Kummer und in eine neuerwachte Hoffnung verstrickt, als daß er diesen Einflüsterungen widerstehen konnte.
    Obwohl ihm schauderte.
    Obwohl ihm kalt wurde.
    Und nacktes Entsetzen ihn erfüllte.
    »Am Glaspol!« flüsterte er.
    »Am Glaspol«, nickte Calhan, und er lächelte dazu, und es war das schlechte Lächeln eines schlechten Mannes, der schlechte Dinge im Sinn hatte.
    »Dort verwandelt sich das Frauenbein in ein Männerbein?« fragte Than Mayens atemlos. »Es wird so wie das andere, das linke?«
    »Das wird es«, versicherte Calhan, und er log nicht einmal dabei, aber Lügen waren auch nicht erforderlich, genügte es doch, Than Mayen die Wahrheit zu verschweigen, um ihn in die Verderbnis zu

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