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Lichtjahreweit

Lichtjahreweit

Titel: Lichtjahreweit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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der Bettler ein Narr war, und Calhan Narren verabscheute; er erschlug ihn, weil der einfältige Bettler nicht wußte, daß Lyzis zuweilen Diät hielt und dann so magere Tröpfe wie ihn verspeiste.
    Und während er weiterging, durch die Dunkelheit der Straßen, drehten sich augenlose Köpfe nach ihm um.
    Und während er die Treppenstraßen erklomm, zuckten bleiche Ohren und lauschten dem Klang seiner unbeirrten Schritte.
    Und während er die Korkenzieherstiegen hinaufkletterte, huschten mißgestaltete Kreaturen davon und verkrochen sich knurrend in schwarzen Löchern, die in schwarzen Mauern gähnten und in Bereiche führten, die nicht einmal Lyzis zu erforschen wagte.
    Schon von weitem vernahm Calhan die Musik.
    Lyzis’ Speisekammermusik.
    Die Musik erfüllte die düstere Stadt mit erlesenen Melodien der Pein, mit Harmonien des Schmerzes, mit Crescenden des Wahnsinns. Calhan mochte die Musik. Natürlich mochte er die Musik. Sein Mund wurde wässrig. Seine gelben Spinnenfinger zuckten. Ächzen gab den Takt an. Stöhnen bestimmte das Tempo. Und Gelächter applaudierte; zwitscherndes, trillerndes Gelächter wie aus der Kehle einer Nachtigall.
    Bezauberndes Gelächter – gräßliches Gelächter.
    Calhan haßte es, und er haßte Lyzis dafür, und er schritt schneller aus, ging immer schneller und schneller und dann rannte er durch die ewige Nacht, ohne zu stolpern, ohne zu fehlen, lief keuchend und geifernd zum Platz der Blindheit und zum herzförmigen, pustelbedeckten Palast, und die Musik wurde lauter und das Gelächter wurde heller und lieblicher und Calhans Haß wurde heißer und heißer. Das Gurren und Kichern, das Zwitschern und Jubilieren verdarb ihm den Genuß an den grausigen Weisen, die Freude an den schmerzerfüllten Chorälen, und er war entschlossen, Lyzis für diesen Frevel zu strafen, wie sie noch nie bestraft worden war, sie zu züchtigen, und sie zu peinigen, weil sie die klamme Herrlichkeit des Entsetzens durch die sphärische Abscheulichkeit ihres Gelächters zu verhöhnen wagte.
    »Licht!« schrie Calhan außer sich vor Zorn, geifernd vor Raserei. »Helligkeit! Feuer! Flammen! Licht! Licht!«
    Die Musik verstummte.
    Das Gelächter brach ab.
    Die Finsternis wallte.
    Und die Nacht zerriß.
    Es wurde hell. Von einer Sekunde zur anderen wurde es blendend hell, sengend hell, verzehrend grell, so lichterloh gleißend wie im Herzen einer Sonne. Die Stadt stöhnte angesichts des Lichts, dieses verbannt geglaubten Feindes. Die schwarzen Fassaden der Häuser, das schwarze Mosaik des Bodens, die schwarzen Mauern des Palastes erbleichten unter dem Ansturm der feurigen Fluten, wurden zuerst leichenblaß und dann farblos und durchscheinend, knisterten und wisperten, zersprangen wie Glas unter den Schlägen eines Schmiedehammers. Der Palast, der versteinerte Schädel des Nachtmahrs zerbröckelte und zerfiel zu Staub. Risse und Sprünge zerschnitten den Boden, krochen weiter und weiter, nach rechts und nach links, quer und im Kreis, in die Gassen und in die Straßen, die Korkenzieherstiegen hinauf und die Tunnel hinab, an den Gebäuden empor und in die Keller hinunter, zwackten hier einen Erker ab, sägten dort eine Wand entzwei, zerrissen da ein Fundament.
    »Licht!« schrie Calhan in maßloser Wut.
    Er stampfte durch den Staub, stampfte durch das Sonnenfeuer, das die Gehirne entfacht hatten, um Qu’ail zu verderben, und dort war Lyzis und Lyzis war bleich wie der Tod und starr wie Gestein. Ihre Fischaugen blickten ins Leere. Ihr hübscher, lieblicher Mund war verzerrt. In der einen Hand hielt sie einen rohen Männerfuß, in der anderen einen Becher voll mit warmem Blut. Aber sie aß nicht mehr. Sie trank nicht mehr. Das Licht lähmte sie.
    Vielleicht ahnte sie auch, was geschehen war.
    Vielleicht hatten ihr die Gehirne die Wahrheit zugeflüstert, weil selbst die Gehirne die Wahrheit zu schätzen wußten, wenn sie einen Schrecken barg, wie Calhan ihn verkörperte.
    »Flammen«, brabbelte Calhan verzückt, während er durch den Staub watete, der alles war, was das sengende Licht von Lyzis’ Palast übriggelassen hatte. »Feuer«, seufzte Calhan, während unter seinen nackten Füßen Knochen knirschten und er mit beiden Händen die menschlichen Reste von Lyzis’ Mittagsmahl forträumte. »Licht«, ächzte er. »Glut! Grelle! Helle!« Und zwischen seinen beschwörenden Flüchen, die von den Gehirnen erhört und mit dem blendenden, fokussierten Licht der nahen Sterne belohnt wurden, zwischen diesen wilden

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